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Deutsche Flüchtlinge in Prag 1989

Zeltlager für Flüchtlinge auf dem Gelände der Prager Botschaft, die im Hintergrund zu sehen ist (am 29. September 1989).

Zeltlager für Flüchtlinge auf dem Gelände der Prager Botschaft (29. September 1989), © dpa – Bildarchiv/Kemmether

Artikel

29. September 1989: Die Staatssekretäre Sudhoff und Lautenschlager informieren Außenminister Genscher über die prekäre Lage in der Prager Botschaft

Es ist Ende September, viele vor allem junge Menschen, darunter auch kleine Kinder, sitzen beengt im Freien auf dem Boden zwischen allerlei Gepäck, alle mit Jacken bekleidet und manche in Decken gehüllt. Sie sind schon seit Tagen oder Wochen hier und warten – darauf, dass sie reisen dürfen, in ein neues Leben, ein neues Zuhause. Sie fliehen aus ihrer alten Heimat und hoffen, wenn sie denn weiter dürfen, offen empfangen zu werden, Verständnis und Hilfe zu erhalten. Es sind keine Flüchtlinge aus Nordafrika oder den Krisengebieten im Nahen Osten, es sind Ostdeutsche in der Botschaft der Bundesrepublik in Prag im September 1989.

Eine Menschenmenge vor der bundesdeutschen Botschaft in Prag am 4. Oktober 1989.
Die bundesdeutsche Botschaft in Prag am 4. Oktober 1989. Am gleichen Abend startete die zweite Ausreisewelle. © dpa – Bildarchiv/Kemmether

Die Zeit drängt für die politischen Entscheidungsträger, denn auch aus Warschau häufen sich die Meldungen über die prekären Verhältnisse. In einem Drahterlass der Staatssekretäre Sudhoff und Lautenschlager vom 29. September an Außenminister Genscher, der sich zu diesem Zeitpunkt zur VN-Generalversammlung in New York aufhielt, wird der Ernst der Lage deutlich: Von über 3000 Zufluchtsuchenden ist die Rede, Zahlen steigend. Die Situation sei „nicht mehr beherrschbar“. Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) führte verschiedene Aspekte an, die ein umgehendes Handeln erforderlich machten: Die sanitären Anlagen reichten trotz zusätzlicher, vorwiegend aus Bundeswehr-Beständen gelieferter Wasch- und WC-Anlagen nicht ansatzweise aus, der Abfluss sei aufgrund der Kapazitäten der Kanäle nicht gewährleistet und für zusätzliche WCs böte das Gelände schlichtweg keine freien Plätze. Die Menschen hätten bereits begonnen, sich zwischen den Zelten zu erleichtern. Das DRK wies in diesem Zusammenhang auf den Wassermangel und auf die prekäre Gesundheitslage hin, zumal „erste Fälle von fieberhaften Durchfällen und damit von Seuchengefahr aufgetreten“ seien. Eine weitere Gefahr stellte angesichts des Wassermangels auch der Umgang mit Feuer dar, da „in drangvoller Enge gekocht und geraucht“ wurde. Das DRK erinnerte schließlich an die Folgen der Massenpanik 1985 im Heysel-Stadion in Brüssel, durch die 39 Menschen starben und 454 verletzt wurden, und befürchtete unter den Zufluchtsuchenden „nicht beherrschbare“ Dynamiken. Das Aggressionspotential würde unter anderem aufgrund der Enge, der auch zahlreiche Kinder ausgesetzt waren, des schlechten Wetters, bereits auftretender „krimineller Elemente“ sowie aufgrund von Alkoholkonsum und Provokationen steigen. Schließlich führe die Raumnot zu „menschenunwürdigen Zuständen“, wenn die wenigen Betten in Schichten genutzt würden und überdies Menschen auf dem Boden schlafen müssten.

Gedenktafel auf dem Balkon der Prager Botschaft im Vordergrund und im Fokus der Fotografie. Im Hintergrund sieht man den Garten.
Gedenktafel auf dem Balkon der Prager Botschaft © dpa/CTK Horazny

Diese Schilderungen verstärkten die dringlichen Bemühungen Genschers in verschiedenen Gesprächen mit den Außenministern der DDR, der UdSSR und der Tschechoslowakei um eine Lösung der Flüchtlingskrise, etwa durch eine sichere Unterbringung außerhalb der bundesdeutschen Botschaft. In diesem Sinne sprach sich der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse gegenüber seinem DDR-Amtskollegen Oskar Fischer dafür aus, „einen Skandal zu verhindern“.1 Noch in der Nacht wies Genscher Botschafter Huber an, in Prag alle verfügbaren Hotelzimmer für die in der Botschaft befindlichen DDR-Bürgerinnen und -Bürger zu buchen.2 Zurück in Bonn erfuhren er und der Chef des Bundeskanzleramts Rudolf Seiters am nächsten Morgen vom Ständigen Vertreter der DDR Horst Neubauer, dass die DDR einer Ausreise der Prager und Warschauer Botschaftsflüchtlinge zustimme. Der Außenminister der Bundesrepublik überbrachte diese Nachricht den Menschen in der Prager Botschaft abends um 18.00 Uhr persönlich mit den berühmten Worten: „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute ihre Ausreise ...“ Tausende jubeln, reisen wenige Stunden später aus und finden eine neue Heimat im bald wiedervereinten Deutschland.

1 Dokument Nr. 10 (Fischer an Honecker, 29.09.1989), in: Die Einheit, S. 107.
2 Dokument Nr. 11 (Abhörprotokoll MfS, 29.09.1989), in: Die Einheit, S. 109.

Literaturempfehlung:
Heike Amos/Tim Geiger (Bearb.): Die Einheit. Das Auswärtige Amt, das DDR-Außenministerium und der Zwei-plus-Vier-Prozess, hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte München – Berlin, Göttingen 2015.


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Über das hier dargestellte besondere Dokument wird in der Rubrik Regest und Formalbeschreibung informiert. Hier ist die Seite eins zu sehen.
Drahterlass vom 29. September 1989, S. 1 (Archivsignatur: PA AA, B 42, Bd. 139918) © AA

Regest und Formalbeschreibung

[Bonn], 1989 September 29

Staatssekretäre Jürgen Sudhoff und Hans Werner Lautenschlager informieren Außenminister Hans-Dietrich Genscher über die Situation der zufluchtsuchenden DDR-Bürger*innen in der Prager Botschaft der Bundesrepublik.

Archivsignatur: PA AA, B 42, Bd. 139918.

Drahterlass, Konzept, DIN A4, 8 Blatt, Vorderseiten in Maschinenschrift beschrieben. Dokumentenkopf links „Drahterlass“ (Fettdruck), rechts Vordruck für „VS-Vermerk (Stempel)“, darunter Vordruck für „Telko-Nr.“, „EDV-Nr./Dat[ierung]/Par[aphe]“, Vermerk „VS-NfD“, Verfügungen „citissime nachts“ und „BM sofort vorlegen“, (handschriftliche Ergänzung (blau) auf Seite 6).

Der Inhalt dieser Präsentation steht unter einer Creative-Commons-Lizenz: CC BY-NC-ND 3.0 DE

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