Willkommen auf den Seiten des Auswärtigen Amts
Rede von Außenministerin Annalena Baerbock beim Berliner Forum Außenpolitik der Körber-Stiftung
Außenministerin Annalena Baerbock beim Berlin Foreign Policy Forum der Koerber-Stiftung, © Florian Gaertner
„Diese toten Schülerinnen in der Ukraine. Das hätten auch wir sein können.“
Das hat eine 18-jährige estnische Schülerin gesagt, die ich im April in einem Gymnasium in Tallinn getroffen habe.
Diese Worte hatte ich im Kopf, als ich drei Wochen später, am 10. Mai in Butscha war. Ein Vorort von Kiew, ein Vorort ähnlich wie Potsdam von Berlin.
„Das hätten auch wir sein können.“ – Dieses Gefühl hat mich im Butscha bis ins Mark erschüttert.
Dieses Gefühl hat die Schülerin aus Tallinn von der ersten Sekunde dieses brutalen russischen Angriffskrieges auf die Ukraine gespürt. Um das zu verstehen, muss man sich vor Augen halten, dass sie anders aufgewachsen ist als 18-jährige in Berlin, Bochum oder Braunschweig.
Sie wurde 2004 geboren, in dem Jahr, in dem Estland und neun weitere mittel- und osteuropäische Länder der Europäischen Union beigetreten sind. Nach Jahrzehnten der Spaltung in Ost und West war das ein Glücksmoment unserer gemeinsamen europäischen Geschichte. Und für uns Deutsche schien es damals wie selbstverständlich, dass die Generation dieser neuen EU in Wohlstand, Freiheit und Frieden aufwachsen würde.
Aus Sicht vieler Menschen und auch vieler Jugendlichen aus Ost- und Mitteleuropa war 2004 vor allen Dingen ein Versprechen: Ihr seid sicher!
Denn zum einen ist die Aufarbeitung von Unterdrückung, Deportation und Diktatur in diesen Ländern bis heute präsent.
Der Ruf nach historischer Wahrheit hat im Baltikum schon vor 1989 die Menschen mobilisiert. Nach dem Ende des Kalten Krieges konnte über diese Themen endlich frei gesprochen und erinnert werden. Und die Narben der Verbrechen aus der Sowjetzeit sind im kollektiven Gedächtnis der Menschen bis heute nicht verheilt.
Zum anderen ist das Gefühl der Bedrohung durch Russland in Mittel- und Osteuropa nie weg gewesen, auch vor dem 24. Februar nicht. Dein Land, lieber Urmas, ist bereits 2007 zur Zielscheibe einer der größten Cyberattacken Europas geworden. Du weißt, was es heißt, wenn Trolle eine ganze Gesellschaft zu spalten versuchen.
Und auch wenn man nach Litauen schaut, dann versteht man diese unmittelbare Bedrohung. Auf den Suwalki-Korridor, die einzige Landverbindung der baltischen Staaten mit den übrigen NATO-Alliierten. 65 Kilometer Nadelöhr zwischen Belarus und Russland.
Als ich im April in Litauen war, habe ich beim Blick auf diese Karte noch einmal mehr verstanden, was dieser Satz heißt: „Das hätten auch wir sein können“. Der Horror der russischen Panzer war und ist dort zum Greifen nah.
Unsere östlichen Nachbarstaaten teilen deshalb ein tiefes Bedürfnis nach Sicherheit. Eine Sicherheit, die wir in Deutschland nach 1990 manchmal als allzu selbstverständlich erachtet und in die wir deswegen zu wenig investiert haben.
Die Friedensunion Europa, das Sicherheitsversprechen 2004, schien für viele von uns in Deutschland einfach so vom Himmel zu fallen. Unsere östlichen Nachbarstaaten wissen, was es heißt, wirklich in Frieden leben zu können. Dass man auch in diesen Frieden investieren muss.
Und deshalb habe ich sehr gut verstanden, dass die Schülerin noch eine zweite Frage hatte, auch wenn sie mich schmerzt. Sie hat gefragt: „Können wir uns auf Deutschland verlassen?“
Diese Frage höre ich immer wieder. Nicht nur von Schülerinnen und Schülern aus Osteuropa, sondern auch von meinen estnischen und polnischen Amtskollegen.
Und ich habe diese Frage auch gehört, als ich die 87-jährigen Wanda Traczyk-Stawska am 3. Oktober in Warschau getroffen habe, auf dem Friedhof der Toten des Warschauer Aufstandes von 1944.
Sie hat den Warschauer Aufstand überlebt. Aber sie hat auch selbst zur Waffe gegriffen, um sich vor den Gräueltaten der Nationalsozialisten zu schützen. Auch sie hat gefragt: „Können wir uns auf Deutschland verlassen? Können wir darauf vertrauen, dass die Bundesrepublik Deutschland unsere ukrainischen Freunde und Nachbarn schützt, die jetzt das erleben müssen, was ich 1944 erleben musste? Dass Deutschland, dass ihr, auch wenn der Winter hart wird, diese Menschen weiter schützt?“
Ich erwähne das hier, weil mich diese Fragen tief bewegen – als Außenministerin, aber auch als deutsche Staatsbürgerin, als Mutter, als Mensch und weil ich als Außenministerin eine Verantwortung trage.
Diese Fragen nicht nur einfach mit einem einfachen Ja zu beantworten, daran arbeite ich: Dass wir Vertrauen schaffen, dass 18-jährige der nächsten deutschen Außenministerin nicht mehr diese Frage stellen müssen.
Und daher sage ich hier in Berlin klar und deutlich, was ich in Tallinn, was ich in Warschau und was ich gestern beim Rat der Außenministerinnen und Außenminister in Luxemburg gesagt habe: Ja, wir sind für euch da. Die Sicherheit des Baltikums, die Sicherheit Osteuropas ist Deutschlands Sicherheit! Wir werden im Ernstfall jeden Zentimeter unseres Bündnisgebietes verteidigen.
Und ja, wir werden auch die Ukraine weiter intensiv mit Waffen unterstützen. Denn wir liefern nicht nur Rüstungsgüter in die Ukraine, um Menschenleben zu retten. Sondern mit diesen Lieferungen, so hoffe ich, geht auch ein Schub Vertrauen und Solidarität einher.
Und zugleich habe ich die Hoffnung, dass jüngere Generation aus unseren Ländern diese Erkenntnis und dieser Schulterschluss leichter fallen werden. Denn – ich glaube, das erleben ganz viele von Ihnen in den letzten Monaten – auch an deutschen Abendbrottischen sprechen Familien heute über die europäische Sicherheit.
Heute sagt die Viertklässlerin, dass sie froh ist, in der NATO zu sein. Ihre Oma sitzt daneben, schluckt vielleicht erst, weil sie sich daran erinnert, wie sie selbst 1980 gegen Aufrüstung auf die Straße gegangen ist.
Aber beide, die Viertklässlerin und ihre Großmutter, eint heute ein Gefühl, das die Menschen in Ost- und Mitteleuropa schon lange kennen: Dass unsere Sicherheit zerbrechlich ist. Dass Frieden kostbar ist und dass wir zugleich dankbar sein können, in der NATO und vor allen Dingen in der Europäischen Union als Friedensunion zu leben.
Die Erschütterungen unserer Sicherheit werden die deutsche und die europäische Identität auf Jahrzehnte prägen – und wir werden sie prägen, mit aktiver Politik.
In diesem Zusammenhang sind die Ergebnisse der Umfrage der Körber-Stiftung zur deutschen Außenpolitik sehr interessant. Auch wenn sich viele Menschen – 52 Prozent in unserem Land – eine zurückhaltende Rolle Deutschlands wünschen, sagen 74 Prozent der Befragten, dass die Bundeswehr zum Schutz unserer Verbündeten eingesetzt werden sollte.
Heute, in dieser Situation, wissen die meisten Menschen in Europa, in Deutschland, worauf es ankommt. In dieser Situation kommt es auf unsere größte Stärke an: Auf unseren europäischen Zusammenhalt, auf unsere Solidarität mit denen, die unsere Unterstützung brauchen.
Denn Solidarität ist kein Selbstzweck. Sie ist die Grundlage für unsere gemeinsame Sicherheit. Diese europäische Solidarität ist unsere Lebensversicherung. Deswegen ist sie auch Grundlage unserer zukünftigen gemeinsamen Sicherheitspolitik. So haben wir es im strategischen Konzept der NATO und beim Gipfel in Madrid angelegt. Und so ist es angelegt in unserer Nationalen Sicherheitsstrategie, die wir federführend als Auswärtiges Amt gerade für die deutsche Bundesregierung schreiben.
Kern unserer zukünftigen Sicherheitspolitik ist die Sicherheit unseres Lebens, unserer Freiheit und die Sicherheit unserer Lebensgrundlagen.
Deshalb stellen wir unsere europäische und transatlantische Wehrhaftigkeit neu auf.
Ich würde gerne auf drei Punkte eingehen.
Erstens, dass wir die Ukraine weiter unterstützen - politisch, wirtschaftlich, humanitär und mit Waffen. Denn die Ukraine verteidigt in ihrem Überlebenskampf auch die europäische Freiheit.
Und ja, wenn man sich die Umfragen heute im Vergleich zum Februar oder März anschaut: Es werden da auch Fragen deutlicher. Und wir hören leichtfertige Sprüche: „Na ja, jetzt verhandelt doch endlich mal! Es kommt ja nicht auf jeden Teil der Ukraine an. Und brauchen wir nicht auch ein bisschen Kompromissbereitschaft, damit wir endlich wieder Frieden haben?“
Aber ich sage hier sehr klar und deutlich – auch wenn es wichtig ist, dass wir gerade in diesen Zeiten kontrovers diskutieren, das ist das Wesensmerkmal von starken Demokratien: Aus meiner Sicht ist diese naive Haltung schon 2014 gescheitert. Wir haben doch erlebt, dass die Annexion der Krim und das Vorgehen im Donbass nur ein Vorgriff auf das waren, was wir seit dem 24. Februar in der Ukraine sehen: Eine Vorbereitung der weiteren totalen Unterwerfung der Ukraine – das sagt der russische Präsident ja sehr deutlich.
Und schauen wir uns die Situation einmal an: Obwohl die halbe Welt in den letzten Monaten alles getan hat, um endlich Frieden wiederherzustellen; jeden Tag daran gearbeitet hat, dass dieser Horror des Krieges endlich aufhört; obwohl die halbe Welt den russischen Präsidenten bekniet, endlich seine Truppen zurückzuziehen, rekrutiert er dieser Tage eben keine Verhandlungsgruppe, sondern weitere Truppen, um einen weiteren Vormarsch auf die Ukraine vorzubereiten.
Wir sehen, dass diese Männer, die ja zum Großteil gegen ihren eigenen Willen in diesen Krieg geschickt werden, dass diese Männer, dass diese russischen Soldaten und Kämpfer keinen Frieden in die Ukraine bringen. Sie bringen, gerade im Osten der Ukraine, schlimmste Verbrechen: Vergewaltigte Frauen, verschleppte Kinder, Todesschüsse auf Bürgermeister, die Brot an ihre Bevölkerung verteilen, Todesschüsse auf Dirigenten, die nicht mit den Besatzern Musik machen wollen.
Deshalb werden wie die Ukrainerinnen und Ukrainer in ihrem Kampf für die Befreiung ihrer Mitmenschen weiter unterstützen, solange es nötig ist.
Und deswegen sage ich klar und deutlich: Ein Diktatfrieden ist kein Frieden für die Menschen in der Ostukraine.
Zweitens statten wir unsere Bundeswehr so aus, dass sie im Rahmen der NATO auch für die Sicherheit der Menschen in Tallinn, Riga, Vilnius oder Warschau da sein kann, wenn es nötig sein sollte. Dazu gehört, dass wir als Teil des europäischen Pfeilers der NATO auch die europäische Rüstungszusammenarbeit besser koordinieren.
Zurzeit haben wir in der NATO und in der EU so viele unterschiedliche Modelle von Transportfahrzeugen, dass wir nicht einmal in der Lage sind, ein gemeinsames Ersatzteillager dafür zu betreiben. Um es klar zu sagen: Wir sollten europäische Rüstungskooperation daher nicht als Wirtschaftsprojekt unterschiedlicher europäischer Nationalstaaten verstehen, sondern in erster Linie als gemeinsame Sicherheitsinstrumente. Und genau daran arbeiten wir.
Drittens stellen wir uns der Aggression Russlands dauerhaft entgegen.
Präsident Putin hat mit den Pseudo-Referenden in den besetzten Gebieten sehr klar gemacht, dass er keinen Weg zurück sucht. Deshalb geht es für Europa nicht um Sicherheit mit Putins Russland, sondern um Sicherheit vor Putins Russland.
Mit unserer Präsenz in Litauen können wir innerhalb von zehn Tagen mehrere tausend Soldatinnen und Soldaten unserer Brigade an die Nordostflanke der NATO verlegen. Wir stellen zudem Eurofighter zum Air Policing in Estland und Patriots für die Slowakei.
Wir haben gestern gemeinsam in Luxemburg beschlossen, dass wir 15.000 Soldatinnen und Soldaten aus der Ukraine ausbilden können und werden. Zum einen in Polen, zum anderen mit einem Headquarter-Teil hier in Deutschland. Wir machen deutlich: Wir stehen füreinander ein. Wir können uns aufeinander verlassen. Und zugleich ist klar, dass wir in einem hybriden Krieg sind, dass wir in einem Wettstreit zwischen den Systemen sind, zwischen Demokratien und autoritären Regimen. Deswegen wird ein Großteil unserer nationalen Sicherheitsstrategie und unserer Arbeit in der Europäischen Union und der NATO darin bestehen, dass wir gemeinsam resilienter werden, dass wir gemeinsam dafür sorgen, unsere Infrastruktur und unsere Netze besser zu schützen.
Die Explosionen an den Pipelines vor unseren Küsten zeigen, wie verwundbar wir dort sind. Deshalb haben wir in einer ersten Maßnahme als NATO beschlossen, gemeinsam mehr zum Schutz unserer Untersee-Infrastruktur zu tun.
Hunderttausende von Kilometern an Netzen – sei es Telekommunikation, sei es Strom, seien es Eisenbahnschienen – liegen vor uns. Und klar ist, man kann keine 100-prozentige Sicherheit und Schutz von Hunderttausenden von Kilometern versprechen.
34.000 Bahnkilometer allein in Deutschland können wir nicht dauerhaft rund um die Uhr an jeder Stelle überwachen. Aber wir können dafür sorgen, dass an den entscheidenden Punkten eine Überwachung stattfindet. Und wir können dafür sorgen, dass Meldeketten so funktionieren, dass bei Vorfällen oder Angriffen niemand zu Schaden kommt. So wie das zum Glück vor einigen Tagen sehr erfolgreich geklappt hat. Niemand ist zu Schaden gekommen und die Bahn hat nach wenigen Stunden ihren Betrieb wieder aufnehmen können.
Mit all diesen Maßnahmen machen wir Europa sicherer. Aber wir werden unsere Freiheit auf Dauer nur gewährleisten, wenn wir über die Grenzen unseres Kontinents hinausdenken. Wenn wir uns dem Wettbewerb zwischen denjenigen, die an das internationale Recht und die internationale Zusammenarbeit glauben, und autoritären Regimen, stellen – auch für Länder in anderen Teilen dieser Welt.
Das heißt, wir müssen zuerst aus den Fehlern unserer Russlandpolitik der letzten Jahrzehnte lernen. Ich sage es hier ganz deutlich: Einseitige wirtschaftliche Abhängigkeit macht uns politisch erpressbar.
Das ist mit Blick auf Russland jetzt vergossene Milch und wir könnten lange darüber reden, wer wann schon vorher gewarnt hat. Unsere osteuropäischen Freunde haben dies schon ganz lange getan. Und wir haben nicht darauf gehört. Wir müssen jetzt dafür sorgen, einen solchen Fehler nicht noch einmal zu machen. Und das heißt, wir werden das auch bei unserer Politik gegenüber China stärker berücksichtigen müssen. Deswegen ist ein Teil der Nationalen Sicherheitsstrategie, auch erstmalig eine deutsche China-Strategie zu formulieren, die natürlich eingebettet ist in die europäische China-Strategie.
Und wir werden deutlich machen, dass wir sehen, dass überall dort, wo wir auf der Welt nicht handeln, wo wir als europäische Wertepartner anderen Wertepartnern auf der Welt nicht beistehen, dass dieses Vakuum andere füllen – egal ob auf dem Westbalkan oder in Ostafrika.
Das gilt nicht nur für Sicherheit im Sinne von verteidigungspolitischen Fragen. Die allermeisten Länder auf dieser Welt sagen klar und deutlich: Die größte Sicherheitsgefahr ist die Klimakrise. Und deswegen ist auch die Frage, wie wir andere Länder bei der Bewältigung dieser Klimakrise unterstützen, eine hoch geopolitische Frage und die Sicherheitsfrage für die nächsten Jahrzehnte.
Unsere Botschaft an unsere Partner weltweit ist daher die, die sie auch an unsere osteuropäischen Freunde und Nachbarn ist: Wir sind für euch da. Wir machen euch starke und faire Angebote, weil wir gemeinsam Lösungen finden wollen und die Interessen aller Beteiligten abbilden wollen und nicht neue, brutale Abhängigkeiten schaffen werden.
Daher sind so technische Begriffe wie Global Gateway aus meiner Sicht zentral für unsere zukünftige Zusammenarbeit. Ich hoffe und freue mich, dass das auch im Laufe dieses Tages intensiv diskutiert wird.
Denn Solidarität und Zusammenarbeit sind kein Selbstzweck. Mit dem Kampf gegen die Klimakrise, mit unserem gemeinsamen energischen Eintreten gegen die Ernährungskrise, unserem Einsatz für das Völkerrecht stützen wir unsere Partner. Aber wir schützen vor allen Dingen unsere ureigenen Sicherheitsinteressen.
Meine Damen und Herren, der frühere tschechische Präsident Vaclav Havel hat einmal gesagt, er lebe dort, wo das Wort Solidarität imstande war, einen ganzen Machtblock zu erschüttern.
Es war die Solidarität der Menschen, die damals in Freiheit und Sicherheit leben wollten, statt unter sowjetischer Diktatur. Es war auch die Solidarität der Menschen in Prag und in Warschau, und es war der Mut der Freiheitsbewegungen im Baltikum, die die deutsche Wiedervereinigung ermöglicht haben.
Solidarität ist die Antwort Europas auf den brutalen russischen Angriffskrieg. Zusammen sind wir stärker als dieser Krieg. Herzlichen Dank!