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Rede der Außenministerin Annalena Baerbock bei der Europakonferenz im Auswärtigen Amt
Keine 1000 Kilometer von Berlin entfernt tobt Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine seit 616 Tagen und Nächten.
Und im Nahen Osten: Der Terror der Hamas, die brutalste Gewalt, die Israel in seiner Geschichte erlebt hat. Jeden Tag zivile Opfer in Gaza.
Die Bilder, die über die sozialen Medien Tag für Tag auf uns einprasseln, mit denen unsere Kinder Tag für Tag aufwachen, sie erschüttern. Und ehrlich gesagt, sie erschöpfen.
Aber zugleich wissen wir: Gerade jetzt können wir uns keine Erschöpfung leisten. Gerade jetzt brauchen wir Kraft, um gemeinsam gegen diesen Krisenstrudel anzuschwimmen.
Denn diese Bilder sind keine Einzelfälle. Sie sind Symptome.
Symptome einer Welt, deren Ordnung immer poröser wird.
In der autoritäre Akteure immer aggressiver versuchen, ihre Einflusszonen zu markieren. Mit militärischen, aber auch mit politischen und wirtschaftlichen Mitteln.
Eine Welt, deren Konflikte sich bis in unsere eigenen Gesellschaften, bis in unsere Wohnzimmer ziehen. Verstärkt durch schnelle Klicks, wo nicht die Komplexität zählt, sondern im Zweifel die einfachen Headlines, im Zweifel Fake News.
Eine Welt, deren Konflikte geopolitische Bruchlinien vertiefen, die auch unsere Partnerschaften weltweit auf die Probe stellen.
Diese Herausforderungen werden unser Jahrhundert bestimmen.
Und ich möchte hier ganz bewusst zu Beginn sagen: Wir haben als EU mit der geschlossenen Reaktion auf den russischen Angriffskrieg eine riesige außenpolitische Leistung vollbracht.
Aber zur Ehrlichkeit gehört auch, dass diese Geschlossenheit kein Selbstläufer ist. Sie wird getestet, an jedem einzelnen der 616 Tage. Und zur Ehrlichkeit gehört: Wir haben in den letzten Wochen gesehen, wie wir um Positionen gerungen haben. Dass wir bei wichtigen Fragen zur Krise im Nahen Osten - bei Details, aber bei wichtigen Details – unterschiedliche Perspektiven und unterschiedliche Rollen hatten. Und dass es nicht immer einfach war, eine gemeinsame Sprache dafür zu finden. Und ja, es gibt für solch substanzielle Fragen keine einfachen Antworten.
Dieses Ringen um einen Kompromiss wird immer zur Europäischen Union dazugehören. Natürlich wird das auch ein Thema sein bei den Gesprächen, die wir heute hier führen. Aber uns allen ist doch klar: Wir Europäerinnen und Europäer werden uns in dieser Welt nur behaupten können, wenn wir zusammenstehen. Als Gemeinschaft von einer halben Milliarde Menschen, als größter gemeinsamer Binnenmarkt der Welt und als Freiheits- und Friedensunion. Denn nur gemeinsam können wir souverän sein – als EU, die nach innen und nach außen handlungsfähig ist.
Deshalb ist die große europäische Frage dieser Zeit nicht ob, sondern wie wir die Union stärker aufstellen sollten. Wie wir unsere Europäische Union gemeinsam stärken. Dafür sind wir heute hier.
Und dafür bin ich dankbar, dass so viele von meinen lieben Kolleginnen und Kollegen heute gekommen sind. Wir haben in der EU mittlerweile einen Konsens darüber gefunden, dass wir unsere EU erweitern müssen. Das ist die geopolitische Konsequenz aus Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine. Aber stärker ist eine erweiterte EU nur dann, wenn wir das tun, wovor wir lange gezögert haben: Eine Überarbeitung der Funktionsweise unserer Union. Denn wenn die Zahl der EU-Mitglieder um fast ein Drittel anwachsen wird, dann braucht unsere Gemeinschaft eine starke Struktur – vom Keller bis zum Dach. Dann geht es darum, nicht nur die Fassade zu verschönern, sondern die Bausubstanz zu stärken, damit die Struktur auch die nächsten Jahrzehnte weiter trägt. Und auch hier sollten wir ehrlich sein: Das ist alles andere als einfach.
Diese Arbeit an der Substanz ist auch weniger spektakulär, als den nächsten Wolkenkratzer am Reißbrett zu entwerfen. Wir wissen: Europa ist immer in Wellen gewachsen. Und die Geschichte der europäischen Einigung wird oft entlang der großen Sternstunden erzählt, vom Schuman-Plan über die Gründung des Binnenmarktes bis zur großen Erweiterung vor zwanzig Jahren. Als Folge von Visionen und Diskussionen, manchmal mit ganz viel Pathos, über die perfekte Union.
Aber die Europäische Union, die europäische Einigung war schon immer auch die nüchterne Arbeit an Verbesserungen und am Kompromiss und an der Suche nach gemeinsamen Lösungen. Wo nicht jeder seine hundertprozentige Sichtweise widergespiegelt bekommt. Aber wo sich alle wiederfinden müssen. Einheit in Vielfalt.
Vielleicht ist es jetzt genau Zeit für diese Nüchternheit. Das Gute ist: Wir haben mittlerweile alle erkannt, dass wir diese gemeinsame Stärkung brauchen. Und deswegen sind wir heute hier. Darin liegt auch bei aller Nüchternheit die große Stärke. Und die große Chance.
Die Staats- und Regierungschefinnen und -chefs haben sich beim informellen Europäischen Rat in Granada darauf geeinigt, einen Reformprozess anzustoßen, der parallel zum Erweiterungsprozess laufen soll. Dabei geht es um viele Einzelfragen, die wir mühsam lösen müssen. Denn in der EU ist jeder Kompromiss ein kostbares Werkstück. Aber gerade deshalb ist es wichtig, dass wir jetzt ganz konkret in diesen Prozess einsteigen. Ich bin der spanischen Ratspräsidentschaft sehr dankbar, dass sie diesen Reformprozess so engagiert vorantreibt.
Wir wollen heute bei unserer Arbeitskonferenz die verschiedenen Perspektiven, die es bereits gibt, zusammenbinden. Und darauf aufbauend neue Ideen erarbeiten. Schon im Dezember, beim Europäischen Rat, wird diese Debatte dann weitergeführt. Auch deswegen sind die heutigen Impulse so wichtig, weil wir schon kurz vor Dezember sind.
Ich möchte dafür zwei Leitgedanken betonen. Erstens: Die Erweiterung unserer Union ist eine geopolitische Notwendigkeit, aber sie ist zugleich auch eine geopolitische Chance für die Europäische Union.
Putins Moskau wird weiter versuchen, einen imperialen Graben durch Europa zu pflügen, der nicht nur die Ukraine von uns trennen soll, sondern auch Moldau, Georgien und den westlichen Balkan. Wenn diese Länder dauerhaft von Russland destabilisiert werden können, dann macht das auch uns, dann macht es uns alle angreifbar.
Wir können uns in Europa keine Grauzonen mehr leisten.
Aber wenn wir schon im Beitrittsprozess diese Länder dabei unterstützen, ihre demokratischen Institutionen zu stärken, ihre Widerstandsfähigkeit zu verbessern und den Menschen eine wirtschaftliche Perspektive zu bieten, dann schließen wir damit nicht nur eine geopolitische Flanke. Sondern wir stärken unsere Gemeinschaft.
Denn die Zukunft unserer Nachbarstaaten bestimmt auch unsere eigene Zukunft. Als wir gemeinsam im letzten Monat mit allen EU-Außenministerkolleginnen und -kollegen in Kiew waren, da haben wir alle genau das gespürt: In Kiew schlägt das Herz Europas. Die Überzeugung, mit der die Menschen in Kiew, in Charkiw, in Lwiw für Europa einstehen, ist dort überall spürbar. Deshalb haben wir deutlich gemacht als EU: Wir wollen die Ukraine als Mitglied unserer Europäischen Union. Und ich bin überzeugt, dass auch der Europäische Rat im Dezember dieses Signal geben wird.
Wir wissen, wie viel dieser Prozess den Beitrittskandidaten abverlangt. Ich glaube, man muss sich das wirklich einmal direkt vor Augen führen, hier im sicheren Berlin: Was das für ein Land wie die Ukraine mitten im Kriegszustand eigentlich bedeutet. Dieser Reformprozess in einer Lage, wo überall Not herrscht, in der die Regierung nicht jedes Mal sagen kann: „Wir reparieren jetzt das Krankenhaus in diesem Dorf und machen noch die zwanzigste Ausschreibung“. Oder: „Wie organisieren wir die Beschaffung dieser Generatoren eigentlich bei den allgemeinen Wettbewerbsbedingungen?“ – weil es sie morgen braucht und nicht erst in ein paar Jahren.
Parallel dazu einen solch umfassenden Reformprozess umzusetzen, das kann für einen Staat, das wissen wir, zur Belastung werden. Deswegen ist es so wichtig, dass wir nicht nur sagen: Wir versichern euch, wir versichern der Ukraine, dass am Ende dieses Wegs der EU-Beitritt steht, sondern auch: Wir begleiten euch auf diesem Weg, gerade auch strukturell, finanziell und materiell.
Das gilt auch für Moldau, das vor dem 24. Februar 2022 noch 100 Prozent seiner Gasimporte aus Russland bezogen hat und sich jetzt im Rekordtempo aus der Abhängigkeit von Russland befreit.
Das gilt für Georgien, wo immer noch so viele Menschen vom Weg in die EU überzeugt sind und sich große Teile der Zivilgesellschaft klar für den EU-Beitritt aussprechen. Auch diese Menschen werden nicht allein lassen.
Und es gibt auch noch den Beitrittsprozess mit der Türkei. Auch wenn dieser Prozess faktisch auf Eis liegt, bleiben hier ebenfalls substanzielle Reformen der Knackpunkt.
Aber wir wissen, die Beitrittsprozesse sind keine Selbstläufer. Es ist jetzt 20 Jahre her, dass die EU den Staaten des Westlichen Balkan in Thessaloniki das Versprechen gegeben hat: Die Tür zur EU steht euch offen, wenn die Bedingungen dafür erfüllt sind. Eltern, deren Tochter oder deren Sohn vor zwanzig Jahren in Tirana oder in Skopje geboren wurde, müssen gedacht haben: „Und wenn sie dann 18 sind und studieren, dann tun sie das in unserer gemeinsamen Europäischen Union“.
Und jetzt sind sie 18, 19, 20 Jahre alt. Bis heute sind die Träume dieser Eltern und ihrer Kinder nicht nur nicht erfüllt, sie haben – auch das gehört zur Ehrlichkeit dazu – auch für Frustrationen gesorgt. Manchmal für Resignation, die bewusst von anderen genutzt wird.
Aber die geopolitischen Gründe, die jetzt für den Beitritt der Ukraine, Moldaus und Georgiens sprechen, die gelten natürlich trotz der Versäumnisse der letzten 20 Jahre auch für den Westlichen Balkan. Deswegen sollten wir uns fragen: Wie können wir den Beitrittsprozess so gestalten, dass nicht noch einmal ganze Generationen ihr Leben im Warteraum der EU verbringt?
Deshalb ist Teil meines Arbeitsvorschlages, dass wir hier herauskommen. Dass Menschen in diesen Ländern bis zum Beitritt nicht immer das Gefühl haben: Ganz oder gar nicht, schwarz oder weiß. Das ist das Gegenteil von dem Verständnis unserer Europäischen Union. Wir sollten daher den Menschen, insbesondere den jungen Menschen, schon früher ermöglichen, an den Vorteilen der EU beteiligt zu sein. Noch bevor ihr Land dann Vollmitglied ist.
Und auch hier können manchmal die vermeintlich so kleinen oder technisch klingenden Dinge große Wirkung erzeugen. Weil es die Lebensrealität der Menschen im Alltag betrifft. Das sind zum Beispiel Studierende aus Nordmazedonien, aus Serbien und der Türkei, die mit Erasmusstipendien in der Europäischen Union studieren können. Das macht die Anziehungskraft der EU in diesen Ländern schon jetzt so viel greifbarer. Und genau das wollen und sollten wir ausweiten; mehr Mittel und EU-Programme für Beitrittsländer öffnen. Von der Forschungsförderung über die Erasmus-Programme, aber gerade auch den praktischen Fragen des Lebens, über EU-Roaming und vereinfachte Visaverfahren.
Und wir sollten über Wege nachdenken, wie wir die Kandidatenländer schrittweise in die EU integrieren. Warum laden wir nicht zum Beispiel jetzt schon Länder, die einzelne Kapitel der Beitrittsverfahren abgeschlossen haben, als Beobachter zu den entsprechenden Ratssitzungen nach Brüssel ein?
Dann sind sie mit dabei, wenn wir über unsere gemeinsame Zukunft entscheiden, statt nur einmal im Jahr eingeladen zu werden, um sich die Fortschrittsberichte der Kommission zu ihrem Land anzuhören. Wenn wir nicht wollen, dass unsere Nachbarschaft zur Grauzone wird, dann müssen wir jetzt schon diese Länder – euch – mit an den Tisch holen.
Dabei muss aber auch klar sein – das haben wir in Albanien vor einigen Wochen besprochen – dass diese schrittweise Integration kein Rosinenpicken bedeuten kann. Denn auch hier geht es um Grundsatzfragen.
Die EU wird nur funktionieren, wenn wir an der Substanz unserer Gemeinschaft, an unseren gemeinsamen Grundwerten keine Abstriche machen. Keine Abstriche an unserem Fundament, unserem Wertefundament. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie werden immer das felsenfeste Fundament unserer Europäischen Union bleiben. Das ist unsere Stärke.
Deswegen geht es auch darum, dass wir Auszahlungen von EU Mitteln konsequenter an die Erfüllung rechtsstaatlicher Standards knüpfen. Auch über eine Reform des Artikel 7-Verfahrens werden wir aus meiner Sicht sprechen müssen, mit der wir unseren Rechtsstaat und unsere Werte effektiver schützen können.
Wir haben derzeit das Problem, dass wir Verfahren zwar eröffnen, aber dass die Konsequenzen daraus dann lange, zum Teil sehr lange auf sich warten lassen. Wir müssen deshalb zeitnah Maßnahmen ergreifen, falls ein Mitgliedstaat wiederholt unsere gemeinsamen Werte verletzt.
Das ist gleichzeitig das klare Signal an die Beitrittskandidaten: Rabatte oder Abkürzungen wird es im Beitrittsprozess nicht geben – schon gar nicht im Bereich des Rechtsstaats. Das heißt im Umkehrschluss aber auch, dass wir dort, wo es Fortschritte gibt, diese auch sichtbar und fühlbar honorieren müssen.
Angesichts dieser schwierigen Aufgabe sollten wir den Beitrittskandidaten kein Datum vorschreiben, bis wann sie die notwendigen Reformen umgesetzt haben sollten.
Aber klar ist doch, dass wir uns als EU Gedanken dazu machen sollten – und ich meine, müssen – wo wir zum Ende dieses Jahrzehnts gemeinsam stehen.
Und das ist mein zweiter Punkt: Größer werden heißt nicht automatisch stärker werden. Das schaffen wir nur mit Reformen, die innerhalb der EU unsere Strukturen, unser Fundament stärken. Es ist gut, dass wir diese Reformdebatte mittlerweile angestoßen haben.
Beim Europäischen Rat, aber auch mit Initiativen wie der deutsch-französischen Gruppe von Expertinnen und Experten zur Zukunft der Europäischen Union. Viele der Fragen, vor denen wir stehen, sind auch hier zunächst technisch.
Aber letztlich stellen uns all diese Themen, all diese Stellschrauben vor eine sehr substantielle Entscheidung: Wo sind wir bereit, nationale Vorbehalte zu überdenken, damit wir als EU insgesamt handlungsfähiger werden?
Ich möchte hier einige Fragen, die wir nachher auch intensiv diskutieren werden, aufwerfen.
Wie schaffen wir es, dass unsere Institutionen auch dann noch funktionieren, wenn fast ein Dutzend neuer Mitgliedstaaten in der EU sind?
Denn klar ist doch – und das ist eigentlich Konsens hier im Raum und so gut wie überall in Europa: Wir können das Europäische Parlament und die Kommission nicht einfach immer größer werden lassen.
Das anzugehen erfordert dann aber mutige Entscheidungen. Und zwar von uns allen. Das kann dann etwa auch für ein Land wie mein Land, Deutschland heißen, dass wir sagen: Wir sind bereit, zeitweise auf einen Kommissar oder eine Kommissarin zu verzichten. Und natürlich wissen wir, dass dieser Gedanke gerade für kleinere Staaten noch schwieriger ist als für uns.
Deswegen wollen wir sicherstellen, dass diese damit keine Mitspracherechte in der Kommission aufgeben. Ein weiteres Modell könnte sein, dass wir große Kommissions-Portfolios unter mehreren Mitgliedstaaten aufteilen, so dass diese gemeinsam einen Zuständigkeitsbereich leiten können.
Wir sollten aber auch Zuständigkeiten und Kompetenzen besser klären. Auch das sehen wir in der aktuellen Situation, in der Krise, wie unter einem Brennglas.
Nehmen wir den Bereich, der uns hier als Außenministerin und Außenminister verbindet:
Unsere gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Wir haben den Hohen Vertreter und einen Europäischen Auswärtigen Dienst mit einer riesigen Expertise, mit einem Netzwerk von über 140 Vertretungen auf der ganzen Welt.
Aber nutzen wir dieses Potenzial wirklich vernetzt als Europäerinnen und Europäer? Sollten wir nicht daran arbeiten, dass das wir das Zusammenspiel zwischen EAD und Kommission besser verzahnen?
Wenn wir zum Beispiel ein Programm wie Global Gateway aufsetzen, ein riesiges Infrastrukturprogramm – und nicht nur ein Infrastrukturprogramm, sondern aus meiner Sicht ein unglaublich wichtiges geopolitisches Tool – wenn wir dieses Programm aufsetzen, mit dem wir unsere Partnerschaften in Afrika, in Lateinamerika und Asien ausbauen, damit wir diese intensivieren, dann müssen die entscheidenden Projekte dazu auch nach geopolitischen Gesichtspunkten getroffen werden.
Dann kann es keine 500 Leuchtturmprojekte geben, sondern dann muss geopolitisch fokussiert werden, um unsere Stärke in der Welt gemeinsam zu nutzen. Dafür brauchen wir die Expertise des EAD mit seinem engen Draht in die Partnerländer – und wir brauchen das technische Fachwissen und die Instrumente der Kommission mit Blick auf wirtschaftliche Portfolios und Infrastrukturprojekte.
Zentral ist dabei also nicht, in welchem Büro, in welcher DG die Projektliste erstellt wird.
Zentral ist, dass die Entscheidung über Projekte strategisch, geostrategisch getroffen wird.
Ich weiß, dass das ein politisches Minenfeld ist, aber ich möchte auch die Frage stellen: Wenn wir uns in dieses Minenfeld nicht reintrauen, wem überlassen wir es dann? Und ich glaube, wir wissen, wem wir es dann überlassen. Denjenigen, die unsere Werte gerade nicht teilen.
Und daher müssen wir uns diesen schwierigen inneren Strukturfragen stellen. Denn ist es wirklich hilfreich, wenn ausländische Gesprächspartner nicht wissen, ob sie bei solchen geostrategischen Fragen die Kommissionspräsidentin, den Präsidenten des Europäischen Rates oder den Hohen Beauftragten einladen sollen, wenn sie über ihre Beziehung zur EU sprechen wollen?
Wir müssen uns also auch hier fragen: Wie erreichen wir in der EU langfristig in der Außenpolitik klare Zuständigkeiten? Mit einem Gesicht und einer Stimme.
Mir ist bewusst, dass es darauf keine plakativen Antworten geben wird, denn diese Fragen gehen an die Substanz. Aber ich bin überzeugt: Wir sollten uns diesen Fragen stellen, denn am Ende profitieren wir alle davon.
Das gilt auch für unsere Entscheidungswege. Wir sehen, dass dort, wo noch das Einstimmigkeitsprinzip gilt, Entscheidungen immer schwerer werden, weil einzelne Staaten blockieren – manchmal themen- und sachfremd – und ihre Vetomacht auf Kosten der Einheit überstrapazieren.
Und es ist einfache politische Mathematik, dass in einer EU mit mehr als 36 Vetos das Blockade-Risiko irgendwann unbeherrschbar wird. Deswegen sollten wir mehr Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit treffen, von Finanzfragen bis zur Außenpolitik.
Ja, darüber haben wir intensiv diskutiert: Das wird bedeuten, dass Länder überstimmt werden. Auch Deutschland. Jedes Land.
Und ich bin mir nach vielen Gesprächen bewusst, dass das erneut für kleinere Länder, die weniger Stimmgewicht haben als wir natürlich noch einmal eine andere Bedeutung hat. Und dass deswegen diese Vorstellung für sie schwieriger ist als für uns.
Aber genau deswegen müssen wir und sollten wir darüber reden, wie jeder seine Sichtweise nicht nur einbringen kann, sondern gesehen wird.
Wie schaffen wir auch hier einen Kompromiss, der kleineren Staaten ihre berechtigten Sorgen nimmt?
Ich glaube, auch da sind wir auf einem guten Weg, in kleinen Gruppen, mit Fachdiskussionen, zum Beispiel in unserer Freundesgruppe, in der wir mit zehn weiteren EU Staaten an diesem Instrument arbeiten, um diese Bedenken zu nehmen und auch in der Außenpolitik schnell handlungs- und entscheidungsfähig zu sein.
Eine dieser Ideen ist, dass Mitgliedsstaaten, die fürchten, in ihren Kerninteressen überstimmt zu werden, die Möglichkeit bekommen, eine gelbe Karte zu ziehen, damit weiter verhandelt und nach Kompromissen gesucht wird.
Und rote Karten, also Vetos, sollten nur für ganz wenige Ausnahmefälle gelten.
Was wir brauchen, ist aus meiner Sicht ein Bewusstseinswandel: Selbst wenn Mitgliedstaaten nicht zu 100 Prozent mit allen Elementen einer Entscheidung übereinstimmen – und das ist im Leben eigentlich so gut wie immer der Fall – sollten sie sagen können: Auch wir profitieren davon, dass die EU insgesamt handlungsfähig ist.
Am Ende erfordert jede Antwort auf die Frage einen Kompromiss, den wir nur mit harter Arbeit finden werden. Und deswegen sind wir heute hier, um uns dieser harten Arbeit zu stellen, um an die nächsten Schritte zu denken.
Für Beitrittskandidaten gibt es bereits seit Jahren einen klaren Reformfahrplan mit Prozessen, Methodologien und Berichtspflichten.
Für die internen EU-Reformen gibt es noch keinen Fahrplan. Das sollten wir jetzt ändern und unter belgischer Ratspräsidentschaft genau einen solchen Fahrplan für unsere EU-Reformen entwickeln.
Dafür sollten wir konkrete Schwerpunkte für die Reformen benennen, die wir dann in den nächsten Jahren, wie auch beim Beitritts-Prozess, angehen.
Der Zeitraum könnte die nächste Legislaturperiode des Europäischen Parlaments umfassen. Das Europäische Parlament sollte natürlich eng eingebunden in diesen Prozess sein, gemeinsam mit der Kommission.
Damit legen wir die Grundlagen, um unsere EU fit für die Erweiterung zu machen, mit pragmatischen Lösungen. Ich bin mir bewusst, dass das schwierig wird und dass das viel Zeit und in einer erschöpften Welt auch weitere kollektive Erschöpfung bringen wird.
Aber so unterschiedlich diese verschiedenen Reformfragen sind, für sie alle gilt ein Grundsatz: Es geht dabei nicht darum, Souveränität aufzugeben. Im Gegenteil. Es geht um ein Investment, das sich für alle am Ende auszahlt.
Je mehr jeder einzelne Mitgliedstaat investiert, desto mehr gewinnen wir zusammen. Das ist die Souveränitätsdividende der Europäischen Union.
Und wenn wir uns die geopolitische Lage ansehen, dann ist es doch genau das, was wir jetzt brauchen.
Eine souveräne Europäische Union, die jeden einzelnen Mitgliedstaat stärker macht.
Eine Union, stärker als die Summe ihrer Teile.
Die in der neuen Mächtekonkurrenz eine eigene Stimme hat und für die Interessen ihrer Bürgerinnen und Bürger einstehen kann, gemeinsam.
Die auch für zukünftige Generationen Freiheit und Wohlstand in Europa garantiert.
Eine EU, die in dieser geopolitischen Welt nicht nur größer, sondern vor allem stärker ist.