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Außenministerin Annalena Baerbock im Interview mit der Zeit

22.11.2023 - Interview

Frage:

Frau Baerbock, als erste Außenministerin Deutschland wollten Sie einen eigenen Stil in der Diplomatie prägen. Wie würden Sie den mit wenigen Worten charakterisieren?

Annalena Baerbock:

Klar, empathisch, pragmatisch.

Frage:

Die WTO-Chefin hat den westlichen Stil so beschrieben, indem sie den Regierungschef eines afrikanischen Landes zitierte: „Wenn wir mit China reden, bekommen wir einen Flughafen. Wenn wir mit Euch reden, bekommen wir einen Vortrag.“ Darin schwingt der Vorwurf mit, dass wir andere belehren. Können Sie diese Kritik verstehen?

Annalena Baerbock:

Das Zitat begann mit den Worten: Ich mag Eure westlichen Werte, aber… In dem Kontext stimme ich voll zu. Denn es reicht nicht, abstrakt über Werte zu sprechen, wir müssen auch in wirtschaftliche Entwicklungen investieren. Zugleich besteht für mich Außenpolitik nicht nur darin, mit Regierungen über Menschen, sondern möglichst mit den Menschen selbst zu sprechen. Und dann wird klar: Die Menschen wünschen sich eigentlich überall auf der Welt dasselbe. Dass ihre Kinder in Frieden, Sicherheit und einigermaßen in Wohlstand aufwachsen können. Für diesen Kern der Menschenrechte einzutreten hat nichts mit einem vermeintlich belehrenden globalen Norden zu tun, sondern ist universell. Im Nahen Osten wird uns ironischerweise ja gerade vorgeworfen, wir würden das Leid der Palästinenser nicht ausreichend sehen. Es wird in Frage gestellt, ob wir genug auf die Menschlichkeit schauen.

Frage:

Für das Leiden in Gaza steht symbolisch das al-Shifa-Krankenhaus, das israelische Soldaten inzwischen eingenommen haben. Sie präsentierten Bilder, die Hamas-Tunnel unter der Klinik zeigen sollen. War der israelische Angriff auf die Klinik aus Ihrer Sicht gerechtfertigt?

Annalena Baerbock:

Krankenhäuser sind in jeder Gesellschaft sensibelste Orte und genießen daher im Völkerrecht einen besonderen Schutz. Doch auch das Völkerrecht kennt die Missbrauchsgefahr solcher Orte für militärische Zwecke, wenn wie im Fall der Hamas dort Waffen gelagert oder Raketen abgefeuert werden. In solchen Momenten muss man abwägen zwischen der Frage, welche militärische Gefahr von solchen eigentlichen Schutz-Orten ausgeht und was den Zivilisten droht, wenn diese Orte ihren Schutzstatus verlieren. Diese Abwägung treffen zu müssen, wünsche ich niemandem auf der Welt. Denn für dieses unglaubliche Dilemma gibt es keine zufriedenstellenden Antworten. Wir können nur alles dafür tun, um Leid zu lindern. Das war auch das Hauptthema meiner letzten Gespräche in Riad, Ramallah und Tel Aviv. Konkret zum Beispiel, dass Frühchen evakuiert werden.

Frage:

Ist für Sie mit dem, was die Israelis an Material vorgelegt haben, ein neuer Sachstand in der Frage erreicht, ob es legitim war, dieses Krankenhaus militärisch einzunehmen?

Annalena Baerbock:

Solchen Situationen kann man nicht tausende Kilometer entfernt beurteilen.

Frage:

Es gab eine UN-Resolution zum Krieg in Gaza, die die humanitäre Lage dort kritisiert, aber das israelische Leid nicht anerkennt und die Hamas-Anschläge vom 7. Oktober nicht klar benannt hat. Deutschland hat sich bei der Abstimmung darüber nur enthalten und nicht dagegen gestimmt. Wie passt das zum Anspruch, Israels Sicherheit sei Teil der deutschen Staatsräson?

Annalena Baerbock:

Von meinen Gesprächspartnern in Israel habe ich immer wieder gehört, wie wichtig es ist, dass wir nicht nur die akute Situation im Blick haben, sondern die Zukunft der israelischen Sicherheit. Ich frage mich, ob alle Kritiker gerade in der deutschen Öffentlichkeit den Text wirklich gelesen hatten. Ein „Nein“ wäre auch ein „Nein“ zu richtigen Dingen wie Freilassung von Geiseln oder der Verbesserung der humanitären Situation gewesen. In dem Sinne haben wir in den Vereinten Nationen mit Enthaltung gestimmt, so wie die Amerikaner sich im Übrigen bei der jüngsten Abstimmung im Sicherheitsrat ja auch enthalten haben.

Frage:

Die Israelis wollten von Deutschland ein Nein zur Resolution.

Annalena Baerbock:

Hm… meiner Wahrnehmung nach lief die Debatte in der deutschen Öffentlichkeit ziemlich entkoppelt von den tatsächlichen Sorgen in Israel, die natürlich vorab ihre Anliegen an uns herangetragen hatten. Für mich geht es bei solchen Abwägungen immer darum: Was ist die Alternative? Wenn Deutschland nicht mit Ländern wie Kanada daran gearbeitet hätte, den ursprünglichen Resolutionstext zu verbessern, dann wäre eine Entschließung verabschiedet worden, die Unwahrheiten über Israel verbreitet.

Frage:

Sie beschreiben diplomatisch-pragmatische Abwägungen. Fallen solche Abwägungen jedoch nicht hinter den Satz von der Staatsräson zurück, der ein besonderes Verhältnis ausdrücken soll?

Annalena Baerbock:

Gerade weil zur deutschen Staatsräson die Sicherheit Israels gehört, ist es nicht damit getan, plakative Solidaritätsbekundungen in den Raum zu stellen, sondern es gilt, die Sicherheit Israels über den Tag hinaus zu gewährleisten. Das tun wir unverbrüchlich. Die Hamas hat ja nicht nur barbarische Verbrechen an Zivilisten begangen, sondern in der israelischen Gesellschaft das Trauma der Shoah reaktiviert und die Normalisierungsprozesse zwischen Israel und etlichen arabischen Nachbarn angegriffen. Und zur bitteren Realität gehört: Mit jeder Woche mehr zivilem Leid in Gaza geraten Letztere mehr und mehr in Gefahr. All das ist Teil dessen, was die Hamas mit grenzenloser Brutalität zerstören will. Und genau das müssen wir im Sinne der deutschen Staatsräson verhindern. Gerade weil unser Land klar an der Seite Israels steht und Vertrauen bei arabischen Ländern genießt, gilt es gerade jetzt als Brückenbauer zu fungieren, um einen regionalen Flächenbrand zu verhindern.

Frage:

Haben Sie den Eindruck, dass Deutschland mit seiner Position zu Israel in der Welt zunehmend allein dasteht?

Annalena Baerbock:

Alleine keineswegs, aber was mir wirklich Sorge macht ist, dass es uns international und auch bei uns in Deutschland zunehmend nicht mehr um die Menschen geht, sondern um Bekenntnisse. Entweder das Selbstverteidigungsrecht Israels oder das humanitäre Leid in Gaza. Beides ist aber Realität. Israel wird niemals in Sicherheit leben können, wenn der Terror nicht bekämpft wird. Und zugleich kann es nur Sicherheit für Israel geben, wenn auch die Palästinenser eine Zukunftsperspektive haben. Daher spreche ich in Ramallah über die bestialischen Verbrechen der Hamas, über die verschleppten israelischen Frauen und Kinder. Und in Israel, wie sehr mich die palästinensischen Kinder umtreiben, die apathisch neben ihren toten Eltern sitzen und die keine Hilfe erreicht. Insbesondere wenn keine Scheinwerfer an sind, sehen das Etliche gerade in der Region sehr ähnlich. Darauf müssen wir, so steinig der Weg ist, aufbauen und einen politischen Horizont im Sinne einer Zweistaatenlösung anfangen zu denken.

Frage:

Dürfen wir Ihnen vorlesen, was uns ein Leser schrieb? „Wir sind in der Lage, Xi knallhart ein Diktator zu nennen, können aber nicht gegen diese völlig einseitige Resolution stimmen.“ Was würden Sie diesem Leser antworten?

Annalena Baerbock:

An der Seite Israels zu sein steht für mich in keinem Widerspruch dazu, alles dafür zu tun, um das Leid der Palästinenser zu lindern. Deutliche Ansprache ist kein Ziel an sich, sondern ein Mittel zum Zweck.

Frage:

Was ist denn Ihr Ziel, wenn Sie Xi Jinping als Diktator bezeichnen und wie hilft das Deutschland weiter?

Annalena Baerbock:

Der Kontext meiner Aussage war der russische Angriffskrieg, der nicht nur die Ukraine betrifft, sondern eine geopolitische Bedeutung hat: Autoritäre Kräfte fordern weltweit Demokratien heraus. Deswegen habe ich in dem Interview im amerikanischen Fernsehen, das Sie erwähnen, sehr deutlich gemacht, dass es kein Zufall ist, wenn Chinas Führung den russischen Angriffskrieg nicht verurteilt, sondern dass sie im Ringen zwischen Autokratien versus Demokratien ein ähnliches Ziel verfolgt wie die russische Führung.

Frage:

In vielen Ländern heißt es nun: Wenn Russland Krankenhäuser zerstört, dann verurteilt das der Westen als Kriegsverbrechen. Wenn Israel das Gleiche tut, hält man sich zurück. Was entgegnen Sie auf diesen Vorwurf der Doppelmoral?

Annalena Baerbock:

Dass er falsch ist. Weil diese Situationen nicht miteinander zu vergleichen sind. Russland hat am 24. Februar 2022 ein Land überfallen, von dem keine Gefahr ausgegangen ist. Es beschießt Krankenhäuser, Schulen, Elektrizitätswerke in der Ukraine. Da verstecken sich keine Terroristen – da leben Kinder, die zur Schule gehen. Die Situation in Gaza ist komplett anders. Dort missbraucht die Hamas 2,2 Millionen Palästinenser für ihre terroristischen Zwecke. Sie haben die Palästinensische Autonomiebehörde aus Gaza vertrieben, indem sie beim Machtputsch 2007 Fatah-Mitglieder von Hochhäusern in den Tod gestoßen haben. Die Hamas bringt auch Palästinenser um, die sich gegen den Terror stellen. Und sie haben Israel immer wieder brutal angegriffen – zuletzt auf unmenschliche Art und Weise am 7. Oktober. Und tun es weiterhin, mit anhaltendem Raketenbeschuss. Dagegen wehrt sich Israel, indem es diese Terrororganisation bekämpft. Eine Terrororganisation, die sich ganz gezielt hinter Kindern, Familien, Zivilisten in Krankenhäusern und Wohnhäusern verschanzt.

Frage:

Der Krieg in Gaza und der Krieg in der Ukraine sind sehr unterschiedlich, trotzdem gibt es die Befürchtung, dass sich das eine auf das andere auswirkt. Geht die Hilfe für die Ukrainer zurück?

Annalena Baerbock:

Nein. Nicht nur wir, sondern viele Akteure auf der Welt haben erkannt, dass wir genau jetzt alles dafür tun müssen, damit der imperiale Wahn Putins nicht gewinnen kann. Es wäre das Ende der internationalen Beziehungen, wenn ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrates das friedliche Miteinander zerstören kann, weil der Fokus auf einer anderen Krise liegt. Deswegen haben wir unsere Ukrainehilfe erneut erhöht.

Frage:

Kann Putin nicht gewinnen oder darf er nicht?

Annalena Baerbock:

Putin darf nicht gewinnen können.

Frage:

Die Ukraine spürt das nachlassende Interesse. Es kommen weniger Waffenlieferungen an. Man befürchtet, dass sich das Zeitfenster schließt, in dem der Krieg zu gewinnen ist.

Annalena Baerbock:

Diese Zeiten sind brutal. Ja. Die Ukraine braucht weiterhin maximale Unterstützung, um sich zu verteidigen. Das nicht erst seit dem 7. Oktober, sondern seit über 650 Tagen.

Frage:

Wir hätten Taurus-Marschflugkörper.

Annalena Baerbock:

Wie schon mehrfach gesagt, ist die Lieferung dieser hochkomplexen Systeme nicht trivial. Daher haben wir das geliefert, was geht: weitere Patriots und Iris-T. Aber es ist vollkommen klar, dass die Ukraine angesichts der festgefahrenen Situation weitere Unterstützung braucht, um insbesondere Gebiete im Süden und Osten zu befreien, die hinter einem riesigen russischen Minengürtel liegen.

Frage:

Der Terrorangriff auf Israel und der Krieg in Gaza legt vieles bloß, das Thema spaltet Gesellschaften, Familien, Parteien. Sind Sie eigentlich enttäuscht von Greta Thunberg?

Annalena Baerbock:

Teile der Klimabewegung wie in Deutschland unter Luisa Neubauer verurteilen den Terror der Hamas klar. Andere, wie Greta Thunberg tun genau das Gegenteil. Damit legitimiert man das barbarische Vorgehen einer Terrororganisation. Das halte ich nicht nur für einen maximalen Schaden für die Klimabewegung. Ich halte dieses Vorgehen für unverantwortlich.

Frage:

Frau Baerbock, man kann in dieser Woche keine Ministerin gehen lassen ohne eine Frage zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu stellen. Hat das Loch von 60 Milliarden Euro im Haushalt das Zeug, die Ampelkoalition zu sprengen?

Annalena Baerbock:

Wir sind in den letzten zwei Jahren robust geworden, daher besorgt mich nicht so sehr der Zustand dieser Regierung, sondern ob wirklich allen politisch Verantwortlichen die Dramatik der Lage klar ist. Ob in diesen weltweit dramatischen Zeiten eine der stärksten Volkswirtschaften und Demokratien weiter seine Wirtschaft unterstützen und die Gesellschaft zusammenhalten kann, hat ja geopolitische Auswirkungen. Da sollten eigentlich alle demokratischen Parteien zusammenstehen.

Frage:

Die CDU könnte mit einer weiteren Klage gegen den Wirtschaftsstabilisierungsfonds, den Doppelwumms, auch den Haushalt für die Jahre 2023/24 kippen. Was passiert, wenn die Regierung keinen Haushalt aufstellen kann?

Annalena Baerbock:

Der Charakter zeigt sich bekanntermaßen in der Krise. Wir Grünen standen in der Eurokrise als damalige Opposition vor einer ähnlichen Frage: Fundamentalopposition oder Staatsverantwortung. Wir haben uns für Staatsverantwortung entschieden. Und der CDU/SPD-Regierung geholfen den Euro zu retten, was ohne unsere Unterstützung im Bundestag nicht möglich gewesen wäre.

Frage:

Sie selbst haben einen Parteitag vor sich. Was, wenn eine nennenswerte Zahl ihrer Parteifreunde zu dem Schluss kommt: Uns reicht es?

Annalena Baerbock:

Dann war es nicht der Grüne Parteitag. Wir ducken uns in schwierigen Zeiten nicht weg. Sondern machen Politik aus Verantwortung. Damit die Zeiten wieder besser werden.

Interview: Alice Bota und Tina Hildebrandt

www.zeit.de

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