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Rede der Außenministerin Baerbock bei der VN-Generalversammlung
„Ich habe Angst, dass die Welt uns vergisst ... denn alle Aufmerksamkeit richtet sich auf Russlands Krieg und die Gewalt im Nahen Osten.“
Das sagte mir eine Frau in Gorom, in Südsudan.
Sie war vor der Gewalt in Sudan geflohen – mit nichts als einer kleinen Tasche voller Habseligkeiten, ihr Kind auf der Hüfte tragend.
Ihre Worte sind mir seitdem nicht aus dem Kopf gegangen.
Und ich weiß, dass sie zahllosen Männern, Frauen und Kindern überall auf der Welt vertraut klingen, Menschen, die hungrig zu Bett gehen, denen Gewalt widerfährt.
Ich stehe hier und sage Ihnen:
Wir haben Sie nicht vergessen.
Die Tatsache, dass Russlands brutaler Krieg gegen die Ukraine seit zwei Jahren tobt, bedeutet nicht, dass wir Ihr Leid nicht sehen.
Eine Schülerin, die aus der Ostukraine verschleppt, die ihren Eltern entrissen wurde, ist ein Kind, das leidet.
Ein Kleinkind in Gaza, das seine Eltern verloren hat, ist ein Kind, das leidet.
Ein Junge in Sudan, der hungert, ist ein Kind, das leidet.
Jedes Leben ist gleich viel wert.
Menschlichkeit ist unteilbar.
Das Schlimmste, was wir tun könnten, wäre, das Leid eines Menschen gegen das eines anderen auszuspielen. Wir würden damit nur jenen in die Hände spielen, die uns auseinanderdividieren wollen, um ihre ruchlose Agenda in der Welt voranzutreiben.
Deswegen ist es blanker Zynismus, wenn der russische Außenminister – wie vor zwei Tagen auf dem G20-Treffen in Rio geschehen – unverhohlen fragt, warum die Welt so große Aufmerksamkeit auf Russlands Krieg gegen die Ukraine richtet.
Herr Lawrow, wir richten unsere Aufmerksamkeit auf Ihren Krieg, weil Ihr Krieg Tod, Schmerz und Zerstörung bringt.
Nicht nur in der Ukraine. Nicht nur in Butscha und Irpin. Nicht nur in der Ostukraine.
Sondern überall auf der Welt.
Russland hat Häfen in der Ukraine bombardiert – absichtlich –, um zu verhindern, dass ukrainisches Getreide ins Ausland exportiert wird, und hat damit Lebensmittel als Waffe eingesetzt.
All das könnte morgen aufhören, wenn der russische Präsident jetzt diesen Krieg beenden würde.
Wenn uns eine Welt am Herzen liegt, in der ein jedes Leben gleich viel wert ist, dann ist es an jeder und jedem Einzelnen von uns, Russlands Krieg die Stirn zu bieten.
Die Vereinten Nationen wurden zu eben diesem Zweck gegründet: zu gewährleisten, dass „ein Leben ein Leben ist“.
Dass Menschlichkeit unteilbar ist.
Präsident Putin hat wieder und wieder bewiesen, dass Menschenleben für ihn nichts zählen – im Ausland ebenso wenig wie im Inland, wo er nun nicht einmal davor zurückschreckt, russische Kinder zu verhaften, die zum Gedenken an Alexej Nawalny Blumen niederlegen.
Der Frau in Südsudan habe ich gesagt: Wir haben uns nicht ausgesucht, unsere Aufmerksamkeit derart auf Russlands Angriffskrieg zu richten. Es ist das ruchlose Handeln des russischen Präsidenten, das uns dazu zwingt.
Das bedeutet aber nicht, dass wir das Leid in Sudan nicht sehen, dass wir das Leid im Nahen Osten nicht sehen.
Wie vielen raubt auch uns die verheerende humanitäre Lage im Gazastreifen nachts den Schlaf.
17.000 Kinder, die Mutter oder Vater verloren haben.
Hunderttausende, die verzweifelt Nahrung und Wasser benötigen. Dieses Leid muss jetzt ein Ende haben.
Die Hamas muss alle Männer, Frauen und Kinder freilassen, die sie bei ihrem ruchlosen Angriff auf Israel am 7. Oktober als Geiseln genommen hat.
Wir brauchen eine humanitäre Pause, damit wir auf einen nachhaltigen Waffenstillstand hinarbeiten können. Damit wir einen Weg finden, der sowohl Israelis als auch Palästinenser in ein Leben in Würde, Frieden und Sicherheit führt. In zwei Staaten.
Ich weiß, dass dieser Konflikt in vielen unserer Länder intensive Emotionen hervorruft. Deswegen ist es so wichtig, nicht jenen nachzugeben, die das Leid des einen gegen das Leid des anderen ausspielen wollen.
Politische Führung bedeutet, der Polarisierung die Stirn zu bieten.
Unsere Gesellschaften vor dem Gift der Entmenschlichung zu schützen.
Das ist die Botschaft, die heute hier von der Generalversammlung ausgehen muss.
Wir stehen an der Seite der Ukraine, solange es nötig ist.
Wir bieten einer Welt der Ruchlosigkeit die Stirn.
Wir stehen ein für eine Welt, in der ein Leben ein Leben ist – sei es palästinensisch, israelisch, sudanesisch oder ukrainisch.„