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Rede von Außenministerin Annalena Baerbock auf der Sudan-Konferenz in Paris

15.04.2024 - Rede

Das Mygoma-Waisenhaus in Khartum war früher einmal ein Zuhause. Ein sicherer Ort für 300 Kleinkinder und Jungen und Mädchen im Schulalter, die dort aufwuchsen, weil sie ihre Eltern verloren hatten. Vor genau einem Jahr, am 15. April, wurde dieses Waisenhaus zu einer Falle. Es geriet ins Kreuzfeuer der Kriegsparteien. Der Beschuss vor der Tür wurde zu einem Hintergrundgeräusch für die Kinder im Schlafsaal. Nahrungsmittel kamen nicht mehr zu ihnen durch.

Einen Tag, 20, 25, 50 Tage lang. Nachdem 50 Tage und Nächte lang Kämpfe um sie herum getobt hatten, gelang es UNICEF und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz endlich, die Kinder und ihre Betreuungspersonen nach Wad Madani, etwa 200 Kilometer entfernt im Bundesstaat al-Dschazira, zu evakuieren. Für die Kinder des Mygoma-Waisenhauses war das ein Hoffnungsschimmer. Endlich schienen sie in Sicherheit zu sein. Allerdings nur für kurze Zeit. Anfang des Jahres mussten die kleinen Jungen und Mädchen erneut fliehen. Weil der Krieg nun auch Wad Madani erreicht hatte.

Was wir derzeit in Sudan erleben, ist die schlimmste Kinder betreffende Vertreibungskrise weltweit. Über 8 Millionen Kinder, Männer und Frauen sind vor der Gewalt auf der Flucht. Humanitäre Helferinnen und Helfer sind ständigen Angriffen ausgesetzt. Es gibt grauenhafte Berichte über gezielte sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt, die von den Kriegsparteien als Waffe eingesetzt wird. Die VN berichten von ethnischen Gräueltaten in Darfur, die an die Schrecken der frühen 2000er-Jahre erinnern.

Dies ist eine menschengemachte Katastrophe. Es ist die schlimmste Kinder betreffende Vertreibungskrise weltweit, und sie spielt sich direkt vor unseren Augen ab. Und doch taucht sie zu Beginn des zweiten Kriegsjahrs in den täglichen Nachrichten vieler unserer Länder praktisch nicht auf.

Als ich Anfang des Jahres in Gorom in Südsudan zu Besuch war, konnte ich für einen Moment erahnen, was dieser Krieg für die Menschen vor Ort bedeutet. Ich sprach mit Frauen, die Zuflucht in einem Flüchtlingslager gesucht hatten. Sie waren Hunderte Kilometer mit ihren Kindern auf dem Rücken gelaufen und hatten mitansehen müssen, wie ihre Töchter unterwegs vergewaltigt wurden.

Was mir eine der Frauen in Gorom damals erzählte, verfolgt mich bis heute. Sie sagte: „Manchmal befürchte ich, dass die Welt uns, uns Frauen, wegen all der anderen Krisen auf der Welt vergessen hat.“

Von unserem heutigen Treffen muss klar und deutlich die folgende Botschaft ausgehen: Wir sehen euer Leid. Wir wissen, dass wir Verantwortung tragen. Und wir vergessen euch nicht. Denn jedes Leben zählt gleich viel, egal ob in der Ukraine, in Gaza oder in Sudan.

Mehr als die Hälfte der Bevölkerung Sudans ist auf humanitäre Hilfe angewiesen, um zu überleben. Doch von den 2,7 Milliarden US-Dollar, die benötigt werden, um den humanitären Bedarf der Menschen zu decken, sind bisher nur 6 Prozent zur Verfügung gestellt worden. Deshalb muss die heutige Konferenz, wie der französische Außenminister bereits gesagt hat, den Beginn einer deutlichen Veränderung in unserer Unterstützung markieren. Weil jedes Leben gleich viel zählt.

Die internationale Gemeinschaft muss mehr für die Menschen in Sudan, für die Kinder in Sudan, tun. Ich freue mich, heute ankündigen zu können, dass Deutschland zusätzlich zu unserer Unterstützung im Rahmen der EU dieses Jahr 244 Millionen Euro an bilateraler humanitärer Hilfe für Sudan und die Nachbarländer zur Verfügung stellen wird. Durch unsere Unterstützung wird die lebenswichtige Arbeit von Organisationen wie UNICEF und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, die die Kinder des Mygoma-Waisenhauses evakuiert haben, möglich gemacht. Ebenso wie die Arbeit des UNHCR, das den Frauen, die ich in Südsudan getroffen habe, Schutz bietet.

Ich möchte den Ländern der Region meine Anerkennung für ihre Solidarität aussprechen und dafür, dass sie denjenigen sichere Zufluchtsorte gewähren, die vor den Kampfhandlungen fliehen. Wir möchten Sie mit unserer bilateralen Entwicklungszusammenarbeit unterstützen.

Heute fordern wir alle hier Anwesenden dringend auf, sich uns anzuschließen und unserer gemeinsamen Verantwortung gerecht werden.

Und wir rufen die beiden Gegner in diesem Krieg, Burhan und Hemedti, auf, die Gewalt zu beenden und ungehinderten Zugang zu humanitärer Hilfe zu gewähren. Und zwar jetzt. Die Zivilbevölkerung und humanitäre Einsätze müssen unter allen Umständen geschützt werden. Wir rufen die beiden Gegner auf, sexualisierte Gewalt nicht länger als strategische Kriegswaffe einzusetzen. Es ist zynisch, dass die gegeneinander kämpfenden Generäle nur in einer Sache einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden scheinen: nämlich darin, dass sie beide Krieg gegen die tapferen sudanesischen Frauen führen.

In einem Land, in dem 2019 eine von Frauen angeführte Bürgerbewegung ein brutales Militärregime gestürzt hat, ist das natürlich kein Zufall.

Wir setzen uns mit Nachdruck dafür ein, die humanitäre Katastrophe in Sudan einzudämmen, und lassen gleichzeitig auch in unseren Bemühungen um eine dauerhafte politische Lösung des Konflikts nicht nach. Wir alle wissen, dass es nicht an Vermittlungsinitiativen zur Beendigung dieses Krieges fehlt. Der zentrale Punkt jedoch ist, dass sie miteinander verknüpft werden und in einem Format stattfinden müssen, das die Kriegsparteien zusammenbringt.

Das ist der Grund, warum wir heute Morgen zusammengekommen sind, und wir sind sehr dankbar dafür, dass sich der Persönliche Gesandte des Generalsekretärs für ein alle Seiten einbeziehendes Konsultationsforum eingesetzt hat. Deutschland hat deutlich gemacht, dass wir bereit sind, mit weiteren Sanktionen den Druck auf die Kriegsparteien zu erhöhen. Die sudanesische Zivilgesellschaft hat der Welt 2019 gezeigt, dass sie Freiheit und Demokratie verdient hat. All diejenigen, die nun Gewalt in Sudan schüren, müssen sich die Frage stellen, ob sie wirklich den Zerfall des Landes riskieren wollen.

Um einen Weg aus dem derzeitigen Leid finden zu können, brauchen die zivilen Akteure Sudans, von denen einige heute hier in Paris zusammenkommen, einen Platz am Verhandlungstisch. Denn ihre Stimme und ihre Taten sind die Hoffnung Sudans.

Wir alle müssen unserer gemeinsamen Verantwortung gerecht werden.

Damit sich die Kinder des Mygoma-Waisenhauses wieder sicher fühlen können.

Damit die Frauen aus Gorom in ihr Zuhause zurückkehren können.

Damit die Männer, Frauen und Kinder Sudans gemeinsam eine friedliche Welt schaffen können.

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