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Rede von Außenministerin Annalena Baerbock beim Festakt 75 Jahre Europarat
Direkt vor diesem Gebäude, 50 Meter von hier entfernt, trat vor 75 Jahren das Ministerkomitee des Europarats zu seiner ersten Sitzung zusammen.
Aber wir können heute nicht gemeinsam feiern, ohne an einen anderen Ort zu erinnern, der 50 km von hier entfernt liegt.
An das kleine Dorf Natzwiller. 530 Menschen. Ein beschaulicher Ort am Fuße der Vogesen.
Anfang Juni 1943 kamen 86 Männer und Frauen in Natzwiller an.
86 jüdische Männer und Frauen, aus acht verschiedenen Ländern.
Diese 86 Männer und Frauen kamen von einer Hölle in die nächste.
Sie kamen aus Auschwitz. Sie wurden ausgewählt, weil die Nazis ihre grausamen „Rassentheorien“ belegen wollten.
Deshalb wurden sie nach Natzwiller gebracht: um sie dort zu töten und um dann ihre Skelette zu untersuchen.
An der sogenannten Reichsuniversität Straßburg, die die Nazis nach der Annexion des Elsass gegründet hatten.
Insgesamt 22.000 Menschen aus ganz Europa wurden allein in diesem im Lager ermordet. Eine ganze Stadt.
Auf den Trümmern von Faschismus und Nationalismus, auf den Trümmern eines Kriegs, der den Kontinent an den Rand des Untergangs gebracht hatte, auf Trümmern, für die mein Land verantwortlich war, kamen vor 75 Jahren zum ersten Mal zehn Minister aus zehn europäischen Ländern im Ministerkomitee des Europarats zusammen.
Sie träumten den Traum von Versöhnung.
Der damalige französische Außenminister Robert Schuman beschrieb diesen Moment als „letzte Chance zur Rettung Europas und unserer Länder“.
Es erfüllt mich mit Demut, heute als deutsche Außenministerin anlässlich des 75. Jubiläums des Europarats zu Ihnen sprechen zu dürfen.
Für mich ist dies ein Moment tief empfundener Dankbarkeit.
Denn mein Land konnte in Europa und durch Europa als Demokratie erwachsen werden, als lebendige Demokratie.
Neunzehn Tage nach der Gründung des Europarats trat in Westdeutschland das Grundgesetz in Kraft.
Darin verpflichteten wir uns, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“.
Eine Verpflichtung, die niemals endet.
Im Jahr darauf trat Deutschland dem Europarat bei. Doch es brauchte Zeit, um ein „gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa“ zu werden.
Es brauchte das Vertrauen unserer Nachbarn, Ihrer aller Vertrauen.
Es brauchte den Willen unserer und Ihrer Bürgerinnen und Bürger, unsere und Ihre Demokratien aufzubauen und zu gestalten – von da an gemeinsam.
Um wachsen zu können, brauchen Demokratien ein starkes Fundament von Regeln und Werten.
Genau das bietet der Europarat, unser Europarat, indem er uns dazu bringt, uns immer wieder selbst zu überprüfen.
Denn Demokratien sind niemals vollkommen, niemals fertig.
Sie wachsen durch Institutionen wie den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, vor dem jede Bürgerin und jeder Bürger eine Regierung zur Rechenschaft ziehen kann, die ihre Rechte verletzt.
Als dieser Gerichtshof 1959 errichtet wurde, war das nichts Geringeres als eine völkerrechtliche Revolution.
Darin spiegelte sich ein gänzlich neues Verständnis wider: die Überzeugung, dass jeder Mensch unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Religion oder davon, wen man liebt, die gleichen Rechte besitzt.
Ein Verständnis, das das genaue Gegenteil der kruden „Rassentheorien“ der Nazis darstellt.
Doch wenn wir ehrlich sind, denken viele Menschen nicht an die Institutionen des Europarats, wenn sie sich auf die Stärken ihrer Verfassungen, die Stärke ihrer Demokratien besinnen.
Viele verwechseln sogar – ich vermute bisweilen auch in unseren Parlamenten – den Europarat mit der Europäischen Union.
Doch die EU, eine Union der Freiheit, wäre ohne den Europarat undenkbar.
Und um offen zu sein, ganz besonders gegenüber meinen Freundinnen und Freunden aus der EU, glaube ich, dass dieser Anlass in diesem Jahr auch eine wichtige Gelegenheit bietet, um uns noch stärker darum zu bemühen, dass die Europäische Union offiziell der Europäischen Menschenrechtskonvention beitritt.
Einer Konvention, die den Grundstein für so viele weitere bedeutende Dokumente des Europarats gelegt hat.
Dokumente, die die Weichen für ein besseres Leben in unseren Ländern gestellt haben.
Beispielsweise – und ich glaube, solche Beispiele lassen sich in vielen unserer Länder finden – ist die Tatsache, dass es heute in meinem Land strafbar ist, seine Kinder zu schlagen, eine Konsequenz der Europäischen Sozialcharta des Europarats.
Und ohne die Istanbul-Konvention hätten auch in Deutschland Frauen und Mädchen weniger Schutz vor häuslicher Gewalt. Das hat sich erst vor Kurzem wieder erwiesen.
Vor deutschen Gerichten erhielten Täter, die ihre Partnerinnen angegriffen hatten, oft mildere Strafen, wenn sie vor der Straftat eine intime Beziehung zum Opfer hatten. Dies steht in klarem Widerspruch zur Istanbul-Konvention.
Deshalb hat der Deutsche Bundestag im vergangenen Juni ein neues Gesetz verabschiedet, durch das geschlechtsspezifische Tatmotive ausdrücklich als strafverschärfender Umstand berücksichtigt werden.
Endlich.
Dies stärkt nicht nur die Rechte von Frauen, sondern auch unsere Demokratien. Denn, und hier zitiere ich eine ältere Dame, die ich im Winter 2022 an der damaligen „Kontaktlinie“ in der Ukraine traf: „Wenn Frauen nicht sicher sind, ist niemand sicher. Denken Sie immer daran.“
Und das tue ich. Wir alle tun es.
Denn Frauenrechte sind ein Gradmesser für den Zustand einer Demokratie. Für den Zustand unserer Demokratien.
Und darin liegt die Kraft des Europarats. Er macht unsere Demokratien stärker. Er hilft uns zu wachsen, zusammenzuwachsen als europäische Demokratien.
Und wenn man den beiden Jugenddelegierten Maurizio und Nina zuhört, die eben so wortgewandt zu uns gesprochen haben, erkennt man, dass genau aus dieser Überzeugung heraus junge Menschen heute sagen: Meine Heimat ist Europa.
Doch 75 Jahre nach der Gründung des Europarats steht unsere Art zu leben so stark unter Druck wie selten zuvor.
Vor 75 Jahren sagte Winston Churchill hier in Straßburg: „Nach dreißigjährigem Kampf bin ich zuversichtlich, dass wir nationalistische Kriege hinter uns gelassen haben.“
Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Und deshalb ist heute nicht nur ein Tag der Dankbarkeit und Freude, sondern auch ein Moment der Selbstreflexion.
Russlands Angriffskrieg hat Leid über Millionen von Menschen in der Ukraine gebracht und der europäischen Friedensordnung einen schweren Schlag versetzt.
Viele von Ihnen, insbesondere unsere östlichen und baltischen Partner, haben uns jahrelang vor Russlands Verhalten gewarnt.
Doch offen gesagt haben wir nicht gut genug zugehört. Heute aber kann ich Ihnen versichern: Wenn Russlands Krieg uns eines gelehrt hat, dann, dass wir unsere Sicherheit, unsere Freiheit nicht als selbstverständlich betrachten dürfen.
Ich bin sicher, Putin ging davon aus, dass nicht nur der ukrainische Widerstand zusammenbrechen würde, sondern auch unsere Geschlossenheit in paneuropäischen Institutionen wie dem Europarat.
Doch er hat sich verrechnet. Wir stehen nicht nur geeint an der Seite der Ukraine, sondern haben auch die Stärke des Europarats unter Beweis gestellt.
Nicht die Ukraine ist isoliert, sondern Russland. Wir haben eine starke Antwort auf den Krieg gegeben. Wir haben Putins Russland aus dem Europarat ausgeschlossen und der Ukraine unsere Unterstützung zugesichert.
Aber gleichzeitig sind unsere Gesellschaften auch von innen unter Druck. Durch Nationalisten, die Menschrechtsaktivistinnen und -aktivisten einsperren und freien Journalismus zensieren.
Durch Extremisten, die Lokalpolitikerinnen und -politiker angreifen und in den sozialen Medien Hass verbreiten. Durch Kräfte, die alles zurückdrehen wollen, was wir gemeinsam in den letzten 75 Jahren aufgebaut haben.
Und viel zu oft sehen wir, wie Hass in Gewalt umschlägt.
Wir haben es gestern gesehen, als Ministerpräsident Robert Fico gewaltsam angegriffen wurde.
Unsere Gedanken sind bei ihm, bei seiner Familie und bei all unseren slowakischen Freundinnen und Freunden. Wir werden solche Angriffe auf unsere Demokratien nicht hinnehmen.
Meine Damen und Herren, während wir sehen, wie die Bedrohungen für unsere europäischen demokratischen Werte zunehmen, müssen wir uns fragen: Wie können wir sicherstellen, dass das europäische Projekt auch in den kommenden 75 Jahren und darüber hinaus erfolgreich ist?
Wie können wir eben jene Institutionen stärken, die es uns erlauben, jeden Tag zu robusteren und besseren Demokratien heranzuwachsen, darunter für mich als Kronjuwel zur Festigung unserer Demokratien die weltbekannte Venedig-Kommission.
Letztes Jahr habe ich mit den Richterinnen und Richtern des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gesprochen, die mir erzählten, wie schwierig ihre Arbeit für sie sei. Dass es dem Gericht an Anwältinnen und Anwälten, an Justizangestellten und Verwaltungspersonal mangele.
Etwa in der Poststelle, an die Bürgerinnen und Bürger ihre Beschwerden senden. Ein ganzer Raum, in dem sich Kisten voller Briefe bis zur Decke stapeln. Derzeit sind mehr als 75.000 Beschwerden von Bürgerinnen und Bürgern anhängig.
Von Bürgerinnen und Bürgern, die auf das Gericht, die auf uns vertrauen.
Lassen Sie mich deshalb ganz deutlich sagen: Wenn wir wollen, dass das Gericht als wirksames Frühwarnsystem dient, müssen wir hinhören, wenn es Alarm schlägt.
Aus diesem Grund appelliere ich an uns alle, den Urteilen des Gerichts Folge zu leisten, insbesondere in Fällen, in denen Menschen zu Unrecht im Gefängnis sitzen.
Die Autokraten von außen und die Demagogen im Inneren haben eines gemeinsam: Sie halten unsere demokratischen Werte für eine Schwäche.
Aber sie liegen falsch.
Was könnte stärker sein als das Versprechen, dass ein Mensch das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben hat?
Ein Leben in Frieden und Freiheit.
Dieses Versprechen ist stärker als Hass.
Ein Versprechen, aufgebaut vor 75 Jahren auf den Trümmern von Nationalismus und Faschismus.
Ein Versprechen von Freude. Ein Versprechen tief empfundener Dankbarkeit.
Und eine Verpflichtung, die niemals endet.