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Rede von Außenministerin Annalena Baerbock auf der Gedenkveranstaltung zum 85. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen
Als am Morgen des 1. September 1939 die ersten Bomben auf Warschau fielen, war Władysław Bartoszewski 17 Jahre alt.
Es waren Sommerferien, so wie heute, er war gerade fertig mit dem Abitur.
Voller Hoffnung und Träume – so wie jeder junge Mensch.
Aber am 1. September 1939 werden er und seine Eltern, so wie viele Warschauerinnen und Warschauer, von den Schüssen der Luftabwehr und dann den Explosionen geweckt.
Die ersten Menschen in Warschau starben im Schlaf in ihren eigenen Häusern, in ihren Betten. Sie starben, noch bevor hier, in der ehemaligen Kroll-Oper, wo wir heute stehen, der Krieg gegen ihr Land ausgerufen wurde.
Als die Bomben auf Warschau niederprasseln, meldete sich Bartoszewski freiwillig beim nächsten Krankenhaus und bringt mit einer Trage Verletzte in die Klinik. Einen nach dem anderen.
Bartoszewski überlebt bekanntermaßen Auschwitz.
Er schließt sich dem Widerstand an.
Er kämpft im Warschauer Aufstand.
Er überlebt den Krieg.
Warschau, seine Geburtsstadt, wird fast vollständig zerstört.
„Ich habe die schwärzeste Seite des Kriegs erlebt“ – so hat er es einmal formuliert.
Ich frage mich heute, auch gerade in diesen Tagen, immer wieder, wie schaffen Menschen das?
Nicht nur, wie überleben sie das, sondern wie finden sie dann diese ungeheuerliche Kraft, aus diesem Horror dann Hoffnung und vor allen Dingen eine neue gemeinsame Zukunft zu bauen. Er tat es, wie so viele andere.
Jahrzehnte später als Außenminister Polens sprach er von seinem Traum, dass Polen und Deutsche Nachbarn statt Feinde sind.
Er hat das damals so formuliert, ich zitiere:
„Beide, Polen und Deutsche sollen nur dies füreinander sein: ganz normale Menschen – […] anerkannt als Mensch und nicht beurteilt aufgrund der nationalen Herkunft.“
Weit mehr als fünf Millionen Menschen, ein Fünftel seiner Vorkriegsbevölkerung, hat Polen in dem Vernichtungskrieg verloren, darunter drei Millionen Jüdinnen und Juden aus Polen.
Fünf Millionen Leben – Männer, Frauen, Kinder, wie wir.
Fünf Millionen Leben, die keine Zukunft haben sollten, weil sie für viele Deutsche keine Menschen wie sie selbst waren.
Weil viele Deutsche sich keine gemeinsame Zukunft mit ihren polnischen Nachbarn vorstellen wollten.
Eine gerechte Zukunft braucht Vorstellungskraft und sie braucht Menschen, die sie leben, tagtäglich.
Am 1. Mai 2004, 60 Jahre nach diesen unvorstellbaren Verbrechen, die Deutsche in Polen begangen haben, standen Hunderte Menschen auf der Oderbrücke zwischen Frankfurt und Słubice.
Polen und Deutsche, Kinder und Enkelkinder der Täter und Opfer.
Ich hatte etwas Glück, zufällig auch dabei sein zu können.
Diese Menschen damals lagen sich um Mitternacht in den Armen und feierten den Beitritt Polens zur Europäischen Union, zu unserer Union des Friedens, der Zukunft.
Damals aber auch keine Selbstverständlichkeit. Es gab damals gerade auch auf deutscher, auf unserer Seite, Widerstände, genau dagegen. Dass Deutsche und Polen sich auf der Oder-Brücke in den Armen liegen.
Dieses Jahr, 20 Jahre später, am 1. Mai 2024, standen wieder viele Menschen auf der Brücke, aber eigentlich standen sie nicht, sie gingen hin und her, weil gemeinsam auf beiden Seiten, in beiden Städten diese 20 Jahre Osterweiterung gefeiert wurden. Und auch gefeiert wurde, dass man damals gegen die Vorurteile, gegen den Nicht-Beitritt, nicht den einfachen Weg gewählt hat, sondern gesagt hat, natürlich machen wir das.
Diesmal hatte ich, nicht durch Zufall, sondern als Außenministern auch wieder das Glück, dort zu sein. Diesmal gemeinsam mit meinem Kollegen Radek Sikorski, dem heutigen Außenminister, also meinem Amtskollegen, und gemeinsam mit den beiden Außenministern aus Deutschland und Polen, die vor 20 Jahren das ermöglicht hatten, mit vielen anderen, Joschka Fischer und Włodzimierz Cimoszewicz.
Wir alle haben dort gemeinsam gefeiert, dass aus Bartoszewskis Traum Realität geworden ist. Realität, dass wir nicht einfach nur Menschen sind, sondern Nachbarn und Freunde.
Wie alltäglich es für Polen und Deutsche mittlerweile geworden ist, eine gemeinsame Zukunft zu leben, hat man gespürt während Corona, als nämlich genau diese Brücke geschlossen wurde und die Menschen gesagt haben, das geht doch nicht. Wir können gar nicht weiter leben ohne dieses gemeinsame Miteinander.
Denn es ist mittlerweile normal, dass Hunderte Frankfurter Schülerinnen und Schüler Polnisch lernen und die 5.- und 6.-Klässler an vielen Słubicer Schulen Deutsch;
dass Handwerksbetriebe auf beiden Seiten der Oder nicht nur zusammenarbeiten, sondern aktiv schauen, dass sie Mitarbeitende aus dem Nachbarland bei sich selbst beschäftigen;
dass täglich 100.000 Menschen die Oder in beide Richtungen überqueren auf dem Weg zur Arbeit, zu Freundinnen und Freunden, zum gemeinsamen Sportverein;
dass Studentinnen und Studenten aus beiden Ländern gemeinsam Plattenbauten wieder aufmöbeln, die zum Abriss bestimmt waren, dort Filme zeigen, Konzerte organisieren, Partys veranstalten.
Und, und das ist allgemein so in diesen Grenzregionen, wir haben ja noch ein paar andere Grenznachbarn, dass genau an dieser Grenze, an der ehemaligen Grenze, deutsche und polnische Polizistinnen und Polizisten gemeinsam, in beiden Ländern gemeinsam, auf Streife gehen.
Das alles ist heute normal – aber es ist alles andere als selbstverständlich.
Wir wissen: Diese Normalität ist ein Privileg, ein kostbares. Das sage ich auch genau an dem heutigen Tag, wo wir hier in Deutschland bei uns Wahlen haben.
Sie wird für uns immer kostbar sein und damit immer eine besondere Verantwortung.
Denn eine Zukunft – nicht gegeneinander, sondern miteinander – das ist uns Deutschen nicht zuletzt durch den Mut und die Vorstellungskraft unserer polnischen Nachbarinnen und Nachbarn eröffnet worden.
Sie waren es, die mit ihrer Solidarność-Bewegung bei den Wahlen im Juni 1989 zum ersten Mal die Zulassung freier Kandidatinnen und Kandidaten erstritten haben. Und sie dann mit überwältigender Mehrheit gewählt haben.
Sie waren es, die damit auch den Menschen in der ehemaligen DDR und im ganzen sowjetischen Machtbereich Mut gegeben haben. Direktor Neumärker hat es angesprochen, die den baltischen Weg mit ermöglicht haben, der für uns alle dann auch die Freiheit geöffnet hat.
Sie waren es, die es ermöglicht haben, dass wir heute in einem wiedervereinigten Deutschland im Herzen Europas leben dürfen.
Die Geschichte unserer beiden Länder, Polen und Deutschland, ist eng verflochten,
im Abgrund des Leids und der unfassbaren Verbrechen, die Deutsche gegen Polinnen und Polen begangen haben,
im Aufbruch des Kampfes für Freiheit und Selbstbestimmung.
Und heute stehen Deutschland und Polen gemeinsam für die Sicherheit Europas ein, gemeinsam für die Sicherheit der Ukraine.
Wir sind als Deutsche da, so wie ganz Osteuropa für uns da war, als wir sie brauchten. Das dürfen wir niemals vergessen.
Unsere heutige Freundschaft darf deshalb niemals zur Selbstverständlichkeit werden. Unsere Solidarität ist kein Geschenk, sondern der Respekt für das, was andere für uns getan haben.
Und dafür braucht es die Erinnerung, gerade hier in Berlin, von wo aus die deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs ihren Ausgang nahmen.
Ich freue mich, dass Sie, lieber Herr Neumärker und lieber Professor Loew, heute mit der Vorstellung einer Informationstafel zur Bedeutung dieses Ortes ein solches Erinnerungszeichen setzen.
Was wir wollen und wofür wir arbeiten ist ein dauerhaftes und sichtbares Denkmal zur Erinnerung an das Leiden der polnischen Bevölkerung unter der deutschen Besatzung, in der Mitte Berlins, mit dem Aufbau des Deutsch-Polnischen Hauses.
Und deswegen sind wir heute hier, genau an diesem Ort, in der Mitte Berlins.
Damit diese Erinnerung, die bis heute bei unseren polnischen Nachbarn so wach und so schmerzhaft ist, auch uns Deutschen noch stärker bewusst ist. Denn das ist es eben nicht. Auch das müssen wir selbstkritisch immer sagen.
Nicht nur, was Heiko Maas gerade angesprochen hat: dass in Deutschland leider nicht jedem klar ist, dass der Warschauer Aufstand und der Aufstand im Warschauer Ghetto, dass das etwas anderes ist.
Und auch weil nicht jedem klar ist, was am 1. September passiert ist, mit dem Einmarsch in Polen. Und warum deswegen das für Polen für immer eine eigene, eine wichtige Betrachtungsweise ist, die auch wir immer wieder einnehmen müssen.
Ich freue mich aber, dass wir gemeinsam, und zwar parteiübergreifend, als demokratische Parteien, in den letzten Jahren daran intensiv gearbeitet haben, und dass wir seit dem letzten Mal, als wir uns hier vor einem Jahr zum Gedenken versammelt haben, ein weiteres Stück vorangekommen sind. Dank auch Dir, liebe Claudia Roth.
Dass wir das Konzept für die Realisierung eines solchen Gedenk- und Begegnungsorts für die Opfer des deutschen Krieges gegen Polen im Kabinett verabschiedet haben.
Dass wir unseren Willen zur schnellstmöglichen Fertigstellung dieses Hauses auch bei der letzten deutsch-polnischen Regierungskonsultation deutlich gemacht haben und zwar gemeinsam.
Als nächstes wird sich der Deutsche Bundestag mit dem Konzept befassen und seine Stellungnahme abgeben.
Es ist unser gemeinsames Anliegen die Umsetzung des Projekts rasch voranzutreiben. Und damit meine ich wirklich rasch. Denn ehrlich gesagt, viel zu viel Zeit ist schon vergangen.
Zeitzeugen wie Władysław Bartoszewski sind nicht mehr unter uns. Und deswegen werden solche Begegnungsorte immer wichtiger. Orte, die deutlich machen, dass das, was der Auschwitzüberlebende, der Widerstandskämpfer, Außenminister und große Versöhner mit Erstaunen festgestellt hat, dass Deutsche und Polen von den tragischen Ereignissen der Vergangenheit heute eine „astronomische Distanz“ – wie er es formulierte – zum Glück entfernt sind. Und dass das aber alles andere ist als eine Selbstverständlichkeit.
Wir alle müssen uns jeden einzelnen Tag dafür einsetzen, dass genau das so bleibt.
Dass Deutsche und Polen für einander nicht nur „ganz normale Menschen sind“, sondern für immer bleiben.
Als Nachbarn.
Als Freunde.
Als Europäerinnen und Europäer in unserem gemeinsamen Europa.
Herzlichen Dank.