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„Kühlen Kopf bewahren, wenn das Herz brennt“
Außenministerin Baerbock und der luxemburgische Außenminister Asselborn im Gespräch mit „Der Spiegel“
SPIEGEL: Herr Asselborn, mit fast 18 Jahren im Amt sind Sie der dienstälteste Außenminister der EU. An wie vielen Tagen sind Sie mit der Frage aufgestanden, wie Sie es wieder in die Nachrichten schaffen könnten?
Asselborn: (lacht) Ganz so schlimm ist es ja nicht.
Baerbock: (lacht) Er ist öfter in den Nachrichten als ich.
SPIEGEL: Steigert das Ihren Einfluss in Europa, Herr Asselborn?
Asselborn: Natürlich ist die Breitenwirkung eine andere, wenn ich auch in den deutschen Nachrichten auftauche. Aber ich tue meine Arbeit und rede so, wie ich es tun muss, um europäische Werte zu verteidigen. Im besten Fall gibt es Momente, in denen man etwas sagt, das bleibt.
SPIEGEL: So wie Ihr berühmtes „Merde alors“, was so viel bedeutet wie: „Scheiße noch mal!“ Das haben Sie 2018 dem italienischen Innenminister Matteo Salvini entgegengeschleudert, als dieser gegen Flüchtlinge hetzte.
Asselborn: Das war ein Tiefpunkt, an dem sich gezeigt hat, wie weit wir in Europa in der Migrationspolitik auseinanderliegen. Aus einem ähnlichen Grund habe ich 2016 öffentlich gefragt, ob man einen Politiker wie Ungarns Regierungschef Viktor Orbán in der EU noch mitschleppen muss, nachdem er in seinem Land Presse und Gerichte gegängelt und Flüchtlinge hinter Stacheldraht gebracht hat. Solche Sätze sind keine Kriegserklärungen. Aber sie zeigen den Menschen zugespitzt, dass ein Problem besteht.
SPIEGEL: Für das Auswärtige Amt arbeiten rund 12 000 Bedienstete, im Luxemburger Außenministerium sind es weniger als 1000. Was sind die Vor- und Nachteile eines großen Apparats?
Asselborn: Luxemburg hat den Deutschen im 14. und 15. Jahrhundert zwar vier Kaiser gegeben, aber seine Erdmasse ist heute rund 140-mal kleiner als die von Deutschland. Als ich 2004 als Außenminister anfing, hatten wir weltweit nur etwa 90 Diplomaten. Jetzt sind es immerhin 160.
Baerbock: Dafür habt Ihr einen Herzog.
Asselborn: Einen Großherzog! Und unsere Diplomaten haben den Vorteil, dass sie nicht zu sehr spezialisiert sind, sondern in vielen Ländern und Fachbereichen arbeiten können.
SPIEGEL: Frau Baerbock, wann haben Sie Herrn Asselborn zum ersten Mal als politische Stimme wahrgenommen?
Baerbock: 2004. Der Name Asselborn war schon damals eng mit der europäischen Integration verbunden. Ich habe zur selben Zeit zum ersten Mal Brüsseler Luft geschnuppert – als Praktikantin im Europäischen Parlament. Er war in den Momenten, in denen Europa zu scheitern drohte, beispielsweise nach dem Nein der Franzosen und Niederländer zum Verfassungsvertrag, der Fels in der europäischen Brandung – und ist es für mich auch heute, nicht nur als Neue, sondern gerade als ähnliche Herzbluteuropäerin wie er. Die Außenminister in der EU sind sicher ohnehin alle etwas mehr europäisch als national orientiert. Man übernimmt diesen Job nicht, wenn das Herz nicht wenigstens ein bisschen für Europa schlägt – aber: Unsere große Gemeinsamkeit ist, dass wir aus Überzeugung handeln. Wir können gerade als große und kleine Länder, als Jean und ich, als sehr erfahrener Außenminister und neue Außenministerin, gut über Bande spielen. Das haben Jean und ich in den vergangenen Monaten auch ein paarmal getan.
SPIEGEL: Sie meinen, Herr Asselborn sagt in Absprache mit Ihnen Dinge, die Sie als deutsche Außenministerin nicht ohne Weiteres sagen könnten?
Baerbock: Ja.
SPIEGEL: Ein Beispiel, bitte!
Baerbock: (lacht) Das geht nicht, da würden wir ja unsere Strategie verraten.
Asselborn: Sagen wir es einmal so: Es gibt Themen, über die ein Luxemburger klarer sprechen kann.
SPIEGEL: Und zwar?
Asselborn: Vor allem Israel und Polen. Stellen Sie sich eine Sekunde lang vor, Frankreichs Regierung würde ein Gebiet in Deutschland beschlagnahmen, Siedlungen darauf bauen und Stacheldraht drum herum ziehen. Unvorstellbar, nicht? Aber Israels Regierung tut genau das seit vielen Jahren in den Palästinensergebieten. Darüber kann ich als Luxemburger Klartext reden – anders als ein Deutscher, der die Last der Geschichte auf seinen Schultern trägt. Mit Polen ist es ähnlich: Als Luxemburger kann man sagen, dass auch in Polen der Rechtsstaat funktionieren muss und die Gerichte unabhängig zu sein haben, was sie derzeit nicht sind. Wenn ein Deutscher das sagt, reagieren viele in Polen reflexartig mit dem Hinweis auf den Zweiten Weltkrieg.
SPIEGEL: Frau Baerbock, sind diese Einschätzungen zur Politik Israels und Polens Beispiele für das Spiel über Bande, das Sie eben erwähnt haben?
Baerbock: Ich habe zwar an andere Themen gedacht, aber natürlich gibt es unter den Außenministern ein Verständnis darüber, dass jeder außen- und innenpolitisch andere Rollen spielt. Für Deutschland wird Israels Sicherheit aus gutem Grund immer an erster Stelle stehen. Aber wenn wir in der Sache ähnlicher Meinung sind, können wir diese unterschiedlichen Rollen nutzen. Das Thema Rechtsstaat ist dafür ein passendes Beispiel. Da sind Deutschland und Luxemburg ein eingespieltes Duo, auch was den Rechtsstaatsmechanismus im EU-Haushalt angeht …
SPIEGEL: … der es neuerdings ermöglicht, einzelnen Mitgliedsländern bei Verstößen Fördergelder zu kürzen.
Baerbock: Richtig. Da haben wir im Rat der Mitgliedsländer und im Europaparlament deutlich gemacht, dass Verstöße teuer werden können.
SPIEGEL: Als es um Flüchtlinge aus Syrien oder Afrika ging, haben einige Länder im Osten der EU jede Solidarität bei der Aufnahme verweigert. Einige von ihnen sind nun mit einer noch größeren Zahl von Flüchtlingen aus der Ukraine konfrontiert. Kann das helfen, eine EU-weite Lösung für das Migrations- und Asylproblem zu finden?
Asselborn: Das wird sich noch zeigen. Was ich aber schon jetzt sagen kann: Es hat mich schockiert, wie in manchen Ländern auf Flüchtlinge aus Syrien oder Eritrea reagiert wurde und wie man dort nun auf Ukrainer reagiert. Für einige besteht offenbar ein Unterschied, ob Bomben auf Menschen in Syrien oder in der Ukraine fallen. Da gibt es einen tiefen Graben quer durch die EU. Den müssen wir überwinden. Wir können nicht Menschenrechte nach Nationalität, Kultur oder Religion gewähren.
SPIEGEL: Frau Baerbock, im September 2015 – Luxemburg hatte die EU-Ratspräsidentschaft inne – ließ Jean Asselborn im Ministerrat über die Verteilung von Flüchtlingen in der EU abstimmen. Ungarn, Tschechien, Rumänien und die Slowakei wurden überstimmt, die EU wurde gespalten. War es das wert?
Baerbock: Auch wenn viele Lebens- und Amtsjahre zwischen uns liegen, sind wir uns einig darüber, wie man die EU weiterbaut. Und dazu gehört, dass man Dinge beim Namen nennt. Wir kommen nur voran, wenn sich einige Länder zusammentun. Und wenn nicht alle mitmachen wollen, dann müssen eben die Länder vorangehen, die gemeinsam die Werte der EU leben wollen. Eine meiner ersten Botschaften in Italien war: Wir aktivieren den Malta-Mechanismus wieder. Auch wenn andere nicht mitmachen, verpflichten wir uns endlich wieder, Geflüchtete von der südlichen EU-Außengrenze aufzunehmen.
SPIEGEL: Herr Asselborn, in diesem Monat werden Sie länger im Amt sein als der legendäre deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher. War es für Sie ein Reiz, Genschers Rekord zu knacken?
Asselborn: Das war für mich ein Spiel. Man kann das ja auf den Tag genau ausrechnen. Der am längsten dienende Außenminister war Prinz Saud Bin Faisal aus Saudi-Arabien mit 40 Jahren. Das schaffe ich nicht mehr, auch an die knapp 30 Jahre des sowjetischen Außenministers Andrej Gromyko komme ich nicht mehr heran. Aber Genscher, das war machbar.
Baerbock: (lacht) 40 Jahre Außenminister, lieber Jean, das solltest du dir nicht zum Ziel nehmen!
SPIEGEL: Wie wichtig ist Erfahrung in dem Job?
Asselborn: Sie kann ein großer Gewinn, aber auch schrecklich ermüdend sein.
Baerbock: Als Jüngere kann man von Erfahrenen lernen, sollte sich aber hüten, andere zu kopieren. Denn dann hätte man nicht nur keine eigenen Ideen und Haltung, sondern verstünde auch nicht, dass Zeiten sich ändern und Dinge, die mal richtig waren, heute falsch sein können, weil die Welt oder auch Regime sich ändern. Wir haben ja im Verhältnis zu Russland gerade erlebt, wie gefährlich es sein kann, wenn man einfach die alte Politik fortsetzt. Wie oft habe ich vor dem 24. Februar in Deutschland gehört,„Ja, aber Ostpolitik zu Zeiten Willy Brandts …“. Und damit wurde das blinde Ja zu Nord Stream 2 begründet. Wobei man übersah, dass Putin im Jahr 2021 eher nicht der Putin war, der 2001 im Deutschen Bundestag sprach.
SPIEGEL: Genschers Politikstil ging als Genscherismus in die Geschichte ein. Ist das für Sie beide ein Schimpfwort oder ein Vorbild?
Baerbock: Er war damals sehr erfolgreich. Wie er die Wiedervereinigung durch Diplomatie ermöglicht hat, das wird unvergessen bleiben. Damals ging es darum, den europäischen Partnern die Angst vor der Wiedervereinigung zu nehmen. Daher war es ratsam, sich als deutscher Außenminister in Europa zurückzuhalten. Ich bin aber froh, dass wir die Zeit der Scheckbuchdiplomatie hinter uns gelassen haben. Den Unwillen, sich außenpolitisch zu engagieren, durch Geld zu kompensieren ist der deutschen Rolle in der Welt nicht mehr angemessen. Heute fordern viele unserer Nachbarländer von uns Deutschen eine Führungsrolle. Unsere Verantwortung ist, so wie andere mutig unsere Wiedervereinigung ermöglicht haben, jetzt mit Impulsen voranzugehen.
SPIEGEL: Genscher plädierte auch bis zu seinem Tod für einen Dialog mit Russland. In einem seiner letzten Interviews 2015, also nach der russischen Besetzung der Krim, kritisierte er die westlichen Sanktionen und sagte, es sei am Westen, auf Russland zuzugehen. Er habe den russischen Präsidenten Wladimir Putin als„durchaus pragmatisch“erlebt, so Genscher.
Asselborn: Ich bekenne, dass ich diesem Irrglauben auch anhing. Ich war nach allem, was ich seit 2004 gesehen habe, fest davon überzeugt, dass man Russland einbinden und ein normales Verhältnis zu Moskau aufbauen kann.„Wandel durch Handel“, dieser Satz von Egon Bahr – ich kenne wenige, die nicht daran geglaubt haben.
SPIEGEL: Sie haben eine enge Beziehung zum russischen Außenminister Sergej Lawrow gepflegt, er kam wenige Monate vor Ihnen ins Amt.
Asselborn: Ich war zwei Wochen vor der Besetzung der Krim in Moskau. Ich hatte keine Ahnung, was passieren würde, und ich glaube, Lawrow auch nicht. Trotzdem bin ich sehr enttäuscht, wir haben uns immer gut verstanden, Lawrow hat mich 2009 bei meinem 60. Geburtstag in meinem Heimatort Steinfort besucht.
SPIEGEL: So viel Vertrauen haben Sie Lawrow nicht entgegengebracht, Frau Baerbock.
Baerbock: Ich möchte mir nicht anmaßen vorauszusehen, wie Leute in zehn Jahren über meine Politik urteilen werden. Rückblickend kann man immer einfach sagen:„Hättet ihr mal“. Es zeichnet Jean aus, dass er heute sagt: Ich lag da falsch. Das schaffen nicht viele. Ich hatte Lawrow viel später getroffen, wenige Wochen vor dem russischen Angriffskrieg und im Bewusstsein der Besetzung der Krim – auch überzeugt davon, dass der Ansatz„Wandel durch Handel“bei dem mittlerweile autoritären russischen Regime vollkommen falsch ist. Aber dennoch habe ich versucht, eine vernünftige Gesprächsbeziehung aufzubauen. Ob er von Putins Plänen wusste, kann ich nicht sagen. Aber auch ich musste feststellen, dass einiges offensichtlich gelogen war.
Asselborn: Wenn Lawrow nichts davon wusste, wäre es ein weiterer Grund, sich große Sorgen zu machen. Putin hat die Demokratie abgestellt, es gibt in Russland keine freie Presse und keine unabhängigen Gerichte mehr. Deshalb müssen wir den jungen Menschen erklären, wie wichtig der Rechtsstaat ist. Da geht es um das Fundament unserer Freiheit. Wir werden den Frieden in Europa nicht sichern durch Verträge, sondern durch Werte und wie sie gelebt werden.
SPIEGEL: Für die Zukunft Europas hat in den vergangenen Jahren vor allem der französische Staatspräsident Emmanuel Macron Vorschläge gemacht – wie jüngst mit der Idee einer Gemeinschaft für Länder, die noch nicht EU-Mitglied werden können oder wollen.
Baerbock: Die Diskussion über ein Europa der zwei Geschwindigkeiten hatten wir schon mal, Jean war dabei und mein Vorgänger Joschka Fischer. Ich habe schon damals, ehrlich gesagt, wenig davon gehalten. Wir haben jetzt durch diesen furchtbaren Krieg die einmalige Chance und Verantwortung, Europa weiterzubauen, aber wir müssen höllisch aufpassen, dass wir es nicht spalten. Wir dürfen keinen exklusiven Klub innerhalb der EU gründen. Der Kandidatenstatus für die Ukraine bedeutet nicht, dass es eine Abkürzung zur Vollmitgliedschaft gibt. Das ist die Lehre aus vorherigen Erweiterungen: Es darf bei unseren Werten keinen Rabatt geben. Aber es darf eben auch nicht zu einem leeren Versprechen werden.
SPIEGEL: Warum haben Sie sich neulich von der Idee eines Konvents für eine EU-Verfassung distanziert, obwohl die Ampel sich im Koalitionsvertrag klar dazu bekennt? Darin steht sogar das Ziel eines europäischen Bundesstaats.
Baerbock: Das war keine Absage an einen Konvent. Er bleibt die Idealvorstellung für die große Reform, auch als visionärer Weg hin zu einem europäischen Bundesstaat. Ich will aber nicht nur mit Visionen Politik machen. Dann könnten wir uns bequem zurücklehnen und sagen: Deutschland hat zuerst heroisch die Idee eines Konvents eingebracht, aber leider haben wir keine Mehrheit dafür. Ende des Versuchs. So ticke ich aber nicht. Ich will, dass sich in Europa etwas verändert. Und solange ich nicht alle an meiner Seite habe – und das braucht es für den großen Wurf –, arbeite ich daran, wie auch bereits innerhalb der bestehenden Verträge viel zum Besseren verändert werden kann. Ein Beispiel: Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik.
SPIEGEL: Haben Sie als Vertreter eines kleinen Landes nicht die Sorge, bei Mehrheitsentscheidungen überstimmt zu werden, Herr Asselborn?
Asselborn: Nein, aber wir können Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik nur einführen, wenn wir das einstimmig beschließen. Diesen Konsens gibt es derzeit nicht.
Baerbock: Einspruch, Euer Ehren. Es braucht diese Einstimmigkeit eben nur einmal. Und dafür könnte es ein Momentum geben.
Asselborn: Zweites Problem: Selbst wenn wir Mehrheitsentscheidungen hätten, stünde es jedem Land der EU frei, bei den Vereinten Nationen zu stimmen, wie es will. Die Frage ist also, was es bringt, in der EU mit Mehrheit für eine Position zu stimmen, wenn wir nicht kontrollieren können, dass diese Position von allen EU-Mitgliedern auch in den Gremien der Uno vertreten wird. Ich fürchte, dass Europa ohne eine große Reform unregierbar wird.
SPIEGEL: Was meinen Sie?
Asselborn: Wir sind jetzt 27 EU-Mitglieder. Auf dem Balkan warten sechs Länder auf Beitrittsverhandlungen. Hinzu kommen die Türkei, Moldau, die Ukraine und Georgien. Dann wären wir zusammen 37 EU-Mitglieder. Ich nenne jetzt kein Jahr, in dem das passiert, aber du wirst es erleben, Annalena, ich wahrscheinlich nicht mehr. Wir werden irgendwann nicht nur einen Konvent brauchen, sondern eine völlig andere Struktur. Das heißt: Die EU braucht einen richtigen Präsidenten, einen Premierminister mit einer Regierung, ein Parlament, das Gesetze vorschlagen kann, und einen Senat neben dem Parlament, in dem jedes Land vertreten ist. Die Länder werden weiter bestehen, aber das Budget wird dann in Brüssel beschlossen.
Baerbock: Ich finde es wichtig, eine solche Vision zu formulieren, damit man weiß, wohin man will. Schon um denjenigen etwas entgegenzuhalten, die das Gegenteil wollen und ein Zurück zum Nationalstaat ja auch ganz offen propagieren. Das darf nur nicht dazu führen, dass man sich in der Zeit verliert, bis ich so alt bin wie Jean jetzt, und nichts passiert. Für mich ist das kein Widerspruch, große Ziele zu haben und zugleich zu sagen: Was sind die Schritte, die wir jetzt, heute, gehen können auf dem Weg dahin. Und zu dem Punkt in der Uno: Europäische Außenpolitik findet ja nicht nur in den Vereinten Nationen statt. Ich hätte es zum Beispiel sehr gut gefunden, wenn wir beim sechsten Sanktionspaket viel schneller entschieden hätten.
SPIEGEL: Genscher hatte während seiner Amtszeit zwei Herzinfarkte. Wie halten Sie beide sich fit?
Asselborn: Auf dem Rennrad. Wenn man mir das Fahrrad wegnehmen würde, könnte ich keine Politik mehr machen. Jeden Tag, den man auf dem Fahrrad sitzt, merkt man, wie schwach man ist. Und jedes Jahr werden die Berge ein Prozent steiler. Aber du bist ja eine Sportlerin, Annalena.
Baerbock: Ich war eine. Leider habe ich gerade zu wenig Zeit für Sport. Daher nehme ich mir simple Dinge vor. Treppe statt Aufzug. Und in meinem Büro steht ein Minitramp.
SPIEGEL: Wie lange wollen Sie den Job noch machen, Herr Asselborn?
Asselborn: Wir haben in Luxemburg Wahlen im Oktober 2023. Da muss ich noch mal ran, das bin ich auch meiner Partei schuldig. Wenn ich so weit wäre, dass ich keinen Spaß mehr an meiner Aufgabe hätte, dann würde ich aufhören. Aber so weit ist es zum Glück noch nicht.
SPIEGEL: Zu Ihrem 60. Geburtstag vor 13 Jahren bekamen Sie vom früheren ARD-Korrespondenten Rolf-Dieter Krause das Buch„Höhenrausch“des ehemaligen SPIEGEL-Journalisten Jürgen Leinemann geschenkt, darin geht es um die Sucht der Politikerinnen und Politiker nach Aufmerksamkeit. Sind Sie süchtig, Herr Asselborn?
Asselborn: Nur nach dem Fahrrad. Ansonsten mache ich meine Arbeit. Es gibt Tage, an denen kein Mensch weiß, dass ich existiere.
Baerbock: (lacht) Außer wenn man den Deutschlandfunk anschaltet.
SPIEGEL: Als Mittel gegen die Sucht zitiert Leinemann einen Rat des Dichters Peter Rühmkorf: „Bleib erschütterbar und widersteh!“ Wann waren Sie zuletzt erschüttert?
Asselborn: Am 24. Februar, dem Tag des russischen Überfalls. Manchmal erdrückt einen als Außenminister das Weltgeschehen.
Baerbock: Ich bin erschüttert, wie oft ich in den ersten sechs Monaten als Außenministerin erschüttert war. Einer der schlimmsten Momente war, als mir die ukrainische Generalstaatsanwältin bei meinem Besuch in Butscha eine Mappe mit Fotos gezeigt hat, darunter eines von einem kleinen Kind, das ganz eindeutig auf einer Kellertreppe erschossen wurde, und eines von einem 16-Jährigen, mit einem Schuss direkt in die Brust. Das sagt alles darüber, dass man mit diesem Putin derzeit nicht verhandeln kann. Es geht ihm um Vernichtung. Selbst von Kindern.
SPIEGEL: Und wann haben Sie zuletzt einer Versuchung widerstanden?
Baerbock: Ach, des Öfteren. Einfach mal sagen, was einem durch den Kopf geht, geht als Außenministerin nicht. Am schwierigsten ist es, wenn das Herz etwas anderes will, als der Kopf sagt. Ich hätte zum Beispiel gern versprochen, dass wir humanitäre Korridore aus den umkämpften Gebieten in der Ukraine garantieren. Aber wir können das nicht leisten. Ein solches Versprechen müsste militärisch abgesichert werden. Daher musste ich klar sagen: Es wird keine Flugverbotszonen geben. Gute Außenpolitik heißt eben auch, einen kühlen Kopf zu bewahren, auch wenn das Herz brennt. Ertragen zu müssen, dass man nichts tun kann – das ist manchmal auch die Brutalität von Außenpolitik.
Asselborn: Man muss die Realität des Krieges anerkennen, auch wenn sie barbarisch ist. Andererseits werden wir beide dafür bezahlt, dass wir an die Diplomatie glauben.
SPIEGEL: Frau Baerbock, Herr Asselborn, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Interview: Markus Becker und Christoph Schult