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Rede von Außenministerin Annalena Baerbock vor dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen
„Ich hatte keine Chance, das zu verhindern. Ich konnte die Kinder nicht verstecken. Ich konnte sie nicht wegbringen.“
So hat es Wolodymyr Sahajdak Reportern erzählt. Er leitet ein Kinderheim am Stadtrand von Cherson. Aber am 3. März letzten Jahres kamen russische Truppen in seine Stadt. Sie haben 15 Kinder mitgenommen, das jüngste davon neun Jahre alt. Diese 15 gehören zu den unzähligen ukrainischen Kindern, die Russland Berichten zufolge im Zuge seines Angriffskriegs gegen die Ukraine entführt hat.
Was könnte niederträchtiger sein, als Kinder aus ihrem Zuhause zu reißen, weg von ihren Freunden, ihre Liebsten? Kinder, die Erwachsene brauchen, die sich um sie kümmern – nicht Erwachsene, die ihr Leben zerstören.
Wir werden nicht ruhen, bis jedes einzelne Kind wieder zu Hause ist. Denn Kinderrechte sind Menschenrechte. Und Menschenrechte sind universell.
Ein Leben ist ein Leben, unabhängig von Herkunft, Rasse, Geschlecht, sexueller Orientierung oder Weltanschauung. Deswegen werden wir in diesem Rat immer die Stimme erheben, wenn Menschenrechte verletzt werden – egal ob im Osten, im Westen, im Norden oder im Süden.
„Ich hatte keine Chance, das zu verhindern“ – diese Worte von Wolodymyr Sahajdak tun weh. Denn die bittere Wahrheit ist: Es gibt keine schnelle und einfache Lösung, um diese und weitere Verbrechen zu beenden oder zu verhindern. Aber das heißt nicht, dass wir nachgeben oder aufgeben sollten. Im Gegenteil.
Wir als internationale Partner müssen für die Opfer einstehen. Jedes Opfer hat einen Namen. Genauso wie jedes der 15 Kinder aus Cherson einen Namen hat - und ein Leben. Wir müssen ihre Namen aussprechen und ihre Rechte fördern. Und wir müssen die Täter beim Namen nennen. Deshalb ist es entscheidend, dass dieser Rat das Mandat der Untersuchungskommission verlängert und sie mit den nötigen Befugnissen ausstattet, um in den Fällen der aus der Ukraine entführten Kinder zu ermitteln – in jedem einzelnen Fall. Denn Straflosigkeit verhindert Gerechtigkeit.
Es schmerzt, zu sehen, dass wir nur begrenzte Macht haben, die Opfer zu schützen. Diese Grenzen sehen wir auch mit Blick auf die Lage in Iran.
Aber wir haben nicht resigniert und die Hände in den Schoß gelegt. Im November hat sich dieser Rat für die Einsetzung einer Aufklärungsmission ausgesprochen, um die Menschenrechtsverletzungen in Iran zu dokumentieren – die brutale Unterdrückung von Demonstrierenden, den Tod hunderter Frauen, Männer und Kinder.
Ich habe so viele mutige Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten getroffen, die mir nach dieser Abstimmung gesagt haben: „Das gibt uns Hoffnung, dass uns die Welt nicht vergessen hat.“
Ihnen, den Menschen in Iran, kann ich versichern: Wir werden euch nicht vergessen. Wir stehen jeden Tag an eurer Seite.
Wir rufen die Behörden in Iran auf, der Aufklärungsmission Zugang zum Land zu gewähren, die gewaltsame Unterdrückung der friedlichen Proteste einzustellen und die Todesstrafe weder zu verhängen noch zu vollstrecken.
Im 21. Jahrhundert sollte niemand mehr ungestraft die Menschenrechte mit Füßen treten können. Und ich freue mich, dass der Hohe Kommissar heute besonders auf die Notwendigkeit hingewiesen hat, Frauenrechte zu stärken. Denn Frauenrechte sind nicht nur Menschenrechte. Frauenrechte sind auch ein Indikator dafür, wie gerecht eine Gesellschaft ist.
Das gilt besonders für Afghanistan, wo die Taliban Frauen und Mädchen aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens verbannt haben: aus Universitäten und weiterführenden Schulen, sogar aus Parks. Diese Frauen überleben. Aber was für ein Leben ist das – wenn man den ganzen Tag zu Hause bleiben muss?
Was wir hier sehen, sind die brutalsten und systematischsten Menschenrechtsverletzungen, die man sich vorstellen kann – in Afghanistan betreffen sie Frauen. Und solche Taten müssen Konsequenzen nach sich ziehen. Deshalb haben wir in der Europäischen Union auf harte Sanktionen gegen diejenigen im Talibanregime gedrängt, die diese eklatanten Frauenrechtsverletzungen zu verantworten haben.
Und wir sollten nicht vergessen, dass diese Taten die Not und das Leid, die es in Afghanistan ohnehin schon gibt, noch verschlimmern. 26 Millionen Afghaninnen und Afghanen brauchen Hilfe. Aber wenn Frauen nicht arbeiten dürfen, besonders im humanitären Bereich, sind viele Frauen und Mädchen von solcher Hilfe abgeschnitten, weil sie von Männern außerhalb ihrer Familie keine Unterstützung annehmen dürfen.
Deshalb werden wir sicherstellen, dass wir auch weiterhin allen Menschen in Afghanistan helfen, die Wasser brauchen, die Lebensmittel brauchen, die Medikamente brauchen. Gleichzeitig werden wir nicht zu „willfährigen Helfern“ derjenigen werden, die Frauenrechte grundlegend verletzen, indem sie Frauen aus der Arbeitswelt verbannen.
Deshalb war es so wichtig, dass wir als internationale Gemeinschaft in unseren internationalen Hilfsprogrammen einen klaren und geeinten Standpunkt vertreten haben – und unmissverständlich gesagt haben, dass humanitäre Arbeit nur funktioniert, wenn Frauen Teil davon sind. Denn ansonsten werden wir Frauen und Kinder nicht erreichen.
Wir wissen, dass unsere Bemühungen den brutalen Verletzungen von Frauenrechten in Afghanistan nicht von heute auf morgen ein Ende setzen werden.
Aber sie verändern etwas. Sie verändern etwas für jede Frau, die das Haus nicht verlassen darf, sie verändern etwas für jedes Kind, das zur Schule gehen möchte, für jeden einzelnen Menschen, der Wasser und etwas zu Essen braucht.
Meine Damen und Herren,
„Ich hatte keine Chance, es zu verhindern.“
Leider treffen diese Worte des Kinderheimleiters aus Cherson nicht nur auf Kinder in der Ukraine zu. Sie treffen auch auf die Frauen in Iran und in Afghanistan zu, und auf viel zu viele Menschen überall auf der Welt. Aber wir müssen es versuchen, für jede und jeden einzelnen von ihnen.
Denn wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt. Darum geht es im Menschenrechtsrat.