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Rede von Außenministerin Annalena Baerbock bei der Eröffnungsveranstaltung der UNIDAS-Woche 2022
Liebe Mitglieder von UNIDAS,
sehr geehrte Damen und Herren,
Guten Morgen nach Lateinamerika und die Karibik – guten Tag hier in Deutschland!
Liebe Antonia Urrejola, ich freue mich ganz besonders, dass Du heute bei uns bist. Denn aus Deinem Land kommen sehr positive Nachrichten. Davon gibt es in diesen Tagen wahrlich nicht sehr viele.
In Chile ist am 11. März die erste „feministische Regierung“ angetreten. Sie besteht aus 14 Frauen und 10 Männern. Das ist eine Sensation, denn einen so hohen Frauenanteil gibt es in fast keinem anderen Kabinett weltweit. Ich möchte Dir, liebe Antonia, dazu herzlich gratulieren, dass Du ein Teil dieser Regierung bist und damit auch Vorbild für ganz viele Frauen und hoffentlich Männer weltweit. Herzlichen Glückwunsch!
Eine solche Kabinettsliste sollte eigentlich nichts Ungewöhnliches sein. Doch in der Realität, in der viele Frauen und Mädchen weltweit leben, ist sie ein viel zu seltenes Signal für Gleichstellung und Gerechtigkeit. Daran – an solcher Gleichstellung, die wirklich volle Repräsentanz oder sogar einmal mehr Frauen als Männer abbildet – sollten sich nicht Regierungen und Vorstandsetagen, sondern auch Parlamente weltweit ein Beispiel nehmen.
Und ich betone dabei weltweit, denn dies ist keine Frage von Nord-Süd, West-Ost. Sondern wir sehen das Problem in allen Ländern dieser Welt, auch in unserem Land, auch in unserem Parlament: Im Deutschen Bundestag sind nur 34 Prozent der Abgeordneten Frauen. Damit stehen wir schlechter da als viele Länder Afrikas oder Lateinamerikas.
Die traurige Wahrheit bleibt auch im Jahr 2022, dass bisher kein Land der Welt hat bisher echte Gleichstellung erreicht hat. Das wollen wir ändern, dass es in Zukunft anders wird, dass alle gleichberechtigt teilhaben.
Und es wäre schön, wenn wir dabei nur über Führungspositionen sprechen müssten. Es geht aber um Existenzielles: Für Frauen und Mädchen ist diese Welt kein sicherer Ort. Nirgendwo. Viele von Ihnen kennen den Namen Chiara Páez. Chiara war 14 Jahre alt, als sie die die 8. Klasse in einem kleinen Ort in Santa Fé in Argentinien besuchte. Sie spielte gern Hockey, machte gerne Sport, wie viele 14-Jährige weltweit. Sie hatte viele Freundinnen, ging gern zur Schule. Sie hatte einen 16-jährigen Freund. Und sie war im dritten Monat schwanger.
Man fand ihre Leiche im Garten des Hauses der Eltern ihres Freundes. Er gestand später, er habe sie erschlagen. Der Grund: Sie weigerte sich, das gemeinsame Kind abzutreiben. Abtreibungen waren damals illegal in Argentinien. Und Chiaras grausame Geschichte war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Dass Frauen wegen ihres Geschlechts getötet werden, das passiert so häufig, nicht nur in Argentinien, sondern so häufig weltweit, dass wir dafür ein eigenes Wort brauchen.
Femizide machen Lateinamerika und die Karibik für Frauen und Mädchen zu den gefährlichsten Regionen der Welt. Von 25 Ländern mit den höchsten Femizidraten weltweit liegen 14 Länder in Lateinamerika und der Karibik.
Aber ich sage klar: Femizide sind in allen Ländern schockierende Realität. Auch in Deutschland ist die Zahl der gewaltsamen Übergriffe auf Frauen empörend hoch. Jede dritte Frau in Deutschland wird im Laufe ihres Lebens Opfer von Gewalt. Durchschnittlich alle fünf Minuten erleidet eine Frau Gewalt in einer Partnerschaft. Und jeden dritten Tag stirbt eine Frau durch solche Gewalt ihres Partners, Ex-Partners oder Ehemanns. Nach wie vor werden solche Morde an Frauen von Teilen der weltweiten Öffentlichkeit oder auch in Gerichtssälen als Familienstreit verharmlost.
Aber: Körperliche Gewalt ist die roheste Form, in der sich Ungleichheit und Frauenhass zeigen. Darüber türmt sich noch viel mehr auf: In vielen Ländern wird Frauen verboten, über ihren Körper und ihre Gesundheit selbst zu bestimmen. Auch hier ist es keine Frage von Nord, Süd, West oder Ost.
Auch in meinem Land – war bis vor vier Wochen, als unsere neue Regierung das Strafgesetzbuch geändert hat – es Frauenärztinnen und Frauenärzten nicht erlaubt, dass sie auf Webseiten darüber informieren, dass sie Abtreibungen vornehmen.
In Guatemala hat der Kongress ausgerechnet am Weltfrauentag einem Gesetzesentwurf zugestimmt, der die gleichgeschlechtliche Ehe verbietet und Gefängnisstrafen für Abtreibung von drei auf 10 Jahre erhöht. Immerhin hat der Kongress das Gesetzgebungsverfahren mittlerweile ausgesetzt.
In den Vereinten Nationen erleben wir regelmäßig einen regelrechten Kulturkampf um die Frage, ob das Bekenntnis zu sexuellen und reproduktiven Rechten und Gesundheit in Erklärungen auftauchen darf und soll. Auch auf der diesjährigen Frauenrechtskommission in New York ist das leider alles andere als selbstverständlich gewesen.
Deshalb sage ich an dieser Stelle als Außenministerin und zugleich 41-jährige Frau und Mutter zweier Töchter einmal ganz undiplomatisch: Kein männlicher Politiker, kein männlicher Richter oder Staatsanwalt weiß, was eine ungewollte Schwangerschaft oder gar eine Vergewaltigung für eine Frau bedeutet. It’s our body, it’s our choice. Es ist unser Auftrag, dass genau das für unsere Töchter eine Selbstverständlichkeit wird: Das universelle Recht, über ihre eigenen Körper zu verfügen.
Wenn wir das endlich erreichen, wird sich das auch in anderen Feldern niederschlagen, wo Frauen immer noch benachteiligt sind:
Frauen sind ärmer und haben schlechteren Zugang zu Bildung: In Deutschland verdienen Frauen 18 Prozent weniger als Männer. Und laut UNICEF sind weltweit zwei Drittel aller erwachsenen Analphabetinnen und Analphabeten Frauen, weil Mädchen in vielen Ländern uns Weltregionen seltener zur Schule gehen als Jungen.
Frauen haben auch weniger Mitspracherecht bei politischen Entscheidungen: Weltweit sind nur etwa ein Viertel der Abgeordneten in nationalen Parlamenten Frauen. Und laut UN Women hatten vergangenes Jahr nur 24 Länder weltweit weibliche Staats- und Regierungschefinnen.
Und von diesen Problemen sind all jene, die mehrfach diskriminiert werden, am stärksten betroffen – Transgenderfrauen, indigene Frauen, schwarze Frauen, Frauen mit Behinderungen.
Am Weltfrauentag redet dann die ganze Welt darüber und wir hören viele Bekenntnisse zur Gleichberechtigung. Aber bei solchen Bekenntnissen dürfen wir nicht – und vor allem nicht nur allein am Weltfrauentag – stehenbleiben, sondern sie müssen Auftrag sein für alle anderen Tage im Jahr. Wir müssen gemeinsam die Missstände anpacken und tatsächlich etwas verändern.
Das haben wir uns als neue deutsche Bundesregierung vorgenommen. Deshalb treibe ich hier auch im Auswärtigen Amt eine feministische Außenpolitik voran. Oftmals hört man dazu: „Was heißt das jetzt, sollen Männer gar nichts mehr zu sagen haben?“ Natürlich nicht. Es geht nicht ums Ausschließen, sondern es geht gerade ums Gegenteil: ums Einbinden. Und zwar das Einbinden von allen Menschen einer Gesellschaft.
Es geht bei der feministischen Außenpolitik, wie heute hier, nicht darum, weniger Stimmen zu hören, sondern mehr Stimmen – nämlich alle Stimmen einer Gesellschaft. Denn – wenn man das einmal ganz nüchtern und volkswirtschaftliche betrachtet – für kein Land der Welt, keine Volkswirtschaft, keine Gesellschaft kann es gesund sein, wenn die Hälfte der Bevölkerung nicht gleichberechtigt mitbestimmen kann und mitvertreten ist. Wie wollen wir die größte Herausforderung unserer Zeit, den Klimawandel lösen, wenn wir der Hälfte der Weltbevölkerung nicht wirklich zuhören? Der Kampf für Gleichstellung ist daher im Sinne einer jeden Gesellschaft. Wir müssen ihn gemeinsam führen, in Deutschland wie in Lateinamerika und der Karibik – mit allen Menschen, egal, welches Geschlecht sie haben.
Das Frauennetzwerk UNIDAS ist unser gemeinsames Angebot dazu: Wir geben dem Kampf für Gleichberechtigung hiermit, mit diesem Frauennetzwerk, eine Plattform. Wir finanzieren Projekte, wir vernetzen Aktivistinnen und wir lernen voneinander. Wir teilen Erfahrungen. Wir müssen uns nur hier in diesem Raum – und viele sind auch digital zugeschaltet – nur umsehen, um das Potential von UNIDAS zu erkennen. Ich will dafür – stellvertretend – hier einige hervorheben:
In diesem Saal sitzen zwei Frauen, die in Venezuela zwischen dem Maduro-Regime und der Opposition mitverhandeln. Sie treffen auf eine brasilianische Expertin, die sich für die Sicherheit von Umweltschützerinnen im Amazonasgebiet stark macht. Und wir haben unter uns die chilenische Leiterin eines Think Tanks, der letzte Woche einen großen Erfolg im laufenden Verfassungskonvent errungen hat: Das Recht auf sexuelle und körperliche Selbstbestimmung wird in den Entwurf der chilenischen Verfassung aufgenommen, über den das Land dieses Jahr abstimmt.
Genau deswegen, weil all das, was wir brauchen, in diesem Netzwerk zusammentrifft, habe ich mich entschieden, heute die Schirmherrschaft von UNIDAS zu übernehmen. Weil ich daran glaube, dass wir gemeinsam etwas verändern können. Und weil ich daran glaube, dass wir gemeinsam etwas verändern müssen. Das sind wir Frauen und Mädchen wie Chiara Páez schuldig. Die Journalistin Marcela Ojeda, die uns heute aus Argentinien zugeschaltet ist, berichtete damals über Chiaras Tod. Sie twitterte drei Worte, die ein Erdbeben auslösten: „Nos están matando“ – Sie bringen uns um.
Tausende Frauen protestierten danach auf den Straßen. Und unter dem Hashtag #NiunaMenos – nicht eine weniger – schwappte eine lokale Bewegung bis nach Chile, Uruguay, Peru und Mexiko. Das zeigt, was Zivilgesellschaft in einer vernetzten Welt für eine Stärke haben kann. Wenn Menschen über Grenzen hinweg, wenn Frauen über Grenzen hinweg gemeinsam für ihre Rechte kämpfen, gemeinsam für ihre Rechte auf die Straße gehen. Das zeigt auch, was eine feministische, eine moderne Außenpolitik bedeutet: Nämlich dieser Zivilgesellschaft zuzuhören, sie zu sehen und eine gemeinsame Plattform zu geben.
Chiaras Klassenkameradinnen leben heute in einem Land, in dem Frauenmorde offen angeprangert werden. Und auch wenn dort, wie an vielen anderen Orten dieser Welt, der Kampf leider weitergehen muss – Frauen werden dort zumindest nicht mehr vor dem Gesetz als Kriminelle behandelt, wenn sie sich zu einer Abtreibung entschließen.
Ich werde deshalb gleich einigen Vertreterinnen von „Ni una Menos“, die die Bewegung heute hier bei uns repräsentieren, den ersten UNIDAS-Preis für Frauenrechte und Demokratie übergeben. Sie haben gezeigt: Wenn wir zusammenstehen, können wir mehr erreichen als wenn jede alleine für sich kämpft. Das ist der Spirit, für den unser Netzwerk steht: vereint – UNIDAS!
Herzlichen Dank für den heutigen Tag, herzlichen Dank für Ihren Kampf, herzlichen Dank für Ihren Hashtag – und dass Sie damit Geschichte geschrieben haben.