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Rede von Außenministerin Annalena Baerbock auf der Konferenz „Berlin Peace Dialogue“
In einem kleinen Dorf im nördlichen Südsudan greift ein Mann seinen Nachbarn mit einem Speer an. Das Opfer überlebt zum Glück. Er kann den Mann aber nicht verklagen, weil es in der Gegend kein staatliches Gericht gibt. Wenn er Rache übt, könnte er damit eine Gewaltspirale auslösen, die ganze Familien in einen über Jahre andauernden Konflikt stürzt.
Aber ich habe gute Nachrichten: In diesem Fall, der wirklich so passiert ist, konnte der Konflikt abgewendet werden. Und zwar auch dank einer deutschen Staatsanwältin. Sabine Arnold berät die Justizbehörden in Südsudan als Peacekeeperin in der Mission der Vereinten Nationen. Ein wichtiger Teil ihrer Arbeit findet in einem Zelt statt. Mit einem Team von 30 Leuten bringt sie ein sogenanntes „mobiles Gericht“ in ländliche Gebiete.
Und in diesem Zelt wurde auch der Fall des Speerangriffs verhandelt. Der Täter wurde verurteilt und musste dem Opfer als Entschädigung mehrere Rinder überlassen.
Seit Beginn der COVID-19-Pandemie hören wir häufig: „There is no glory in prevention“. Ich denke, das Beispiel Südsudan zeigt, wie falsch das eigentlich ist. Prävention ist durchaus ruhmreich. Sie landet vielleicht nicht immer auf der Titelseite, aber sie schützt Menschen.
Jeder, der heute bei dieser Konferenz ist, weiß, wie zivile Instrumente, also unabhängige Gerichte oder eine gut funktionierende Polizei, Gewalt verhindern können. Deshalb sind sie fester Bestandteil der internationalen sicherheitspolitischen Maßnahmen Deutschlands.
Ja, durch den Krieg in der Ukraine sind zwischenstaatliche Konflikte in unserem Sicherheitsdenken neu in den Fokus gerückt – während unsere zivilen Instrumente lange Zeit vor allem auf die Lösung interner Konflikte ausgerichtet waren.
Aber ich bin überzeugt, dass wir diese Instrumente heute mehr denn je brauchen und dass wir sie jetzt anpassen müssen. Wenn wir Sicherheit nur militärisch denken, können wir keinen dauerhaften Frieden schaffen.
Unser Ansatz zur Krisenprävention gründet deshalb auf einem integrierten Sicherheitskonzept.
Sicherheit, das ist zuallererst die Sicherheit des Lebens – keine Angst haben zu müssen, auf der Straße erschossen oder von einer Bombe getötet zu werden. Deshalb liefern wir schwere Waffen, damit die Ukraine ihre Bürgerinnen und Bürger verteidigen kann.
Aber auch unsere zivilen Instrumente schützen die Menschen vor Gewalt. In Niger bilden wir Polizeikräfte aus, die Menschen vor Terroristen und vor Bandenkriminalität in der Grenzregion schützen. Und das Beispiel von Sabine Arnold aus Südsudan zeigt, dass auch Gerichtsurteile einen Beitrag zur Sicherheit leisten können.
Sicherheit bedeutet zweitens, dass Menschen in Freiheit leben können. Dieses Jahr sagte mir ein deutscher Peacekeeper, der für die OSZE in der Ukraine arbeitete: „Man kann Frieden nicht mit Waffengewalt erzwingen. Dann ist er nicht nachhaltig.“
Daran musste ich diese Woche denken, als ich die Berichte über die Scheinreferenden im Donbas gesehen habe. Menschen werden bedroht, manchmal mit vorgehaltener Waffe, damit sie ihr Haus, ihre Wohnung oder ihren Arbeitsplatz verlassen und ihre Stimme in gläsernen Urnen abgeben. Das ist das Gegenteil von freien und fairen Wahlen. Das ist das Gegenteil von Frieden. Es ist ein Diktatfrieden.
Und solange dieses russische Diktat in den besetzten Gebieten der Ukraine fortbesteht, sind die Bürgerinnen und Bürger nicht sicher, nicht frei.
Ich freue mich, dass Swetlana Tichanowskaja, die sich weiterhin mutig gegen das Regime in Belarus stellt, sich gleich virtuell an uns richten wird. Denn sie und so viele Menschen in Belarus wissen am besten, dass Freiheit und Sicherheit mehr sind als die Abwesenheit von Krieg.
Sicherheit bedeutet drittens, die unabdingbaren Grundlagen unseres Lebens zu schützen – unsere Umwelt und unsere natürlichen Ressourcen.Wenn Starkregen in Pakistan ein Drittel des Landes überflutet – ein Gebiet von der Größe Deutschlands –, dann zeigt das, welche Gefahr die Klimakrise für uns darstellt.
Und wenn bis 2050 über 200 Millionen Menschen weltweit wegen der Klimakrise ihre Heimat verlassen müssen, dann zeugt sich: Die Klimakrise bedroht die Sicherheit ganzer Staaten.
Und diese Bedrohung betrifft nicht nur Länder wie Pakistan, Äthiopien oder Chile, sondern auch Länder in Europa – wenn wir die Klimakrise, diese größte sicherheitspolitische Herausforderung auf unserem Planeten, nicht angehen.
Deshalb wird die Klimakrise im Zentrum unserer Krisenprävention stehen. Das bedeutet, dass wir den Klimawandel aktiv bekämpfen müssen – im eigenen Land und auf internationaler Ebene. Jede Tonne CO2 macht einen Unterschied. Denn es ist beileibe nicht dasselbe, ob die Temperatur der Erde, auf der wir leben, um 1,5, um 1,7, um 2 oder um 3 Grad ansteigt.
Und wir helfen denen, die von der Klimakrise schon heute am stärksten betroffen sind – denn wir leben ja jetzt schon mit einer Erderwärmung von 1,1, fast 1,2 Grad.
Wir bringen Lebensmittel ans Horn von Afrika, wir unterstützen friedliche Verhandlungen zur Regelung eines gerechten Wasserverbrauchs in trockenen Gebieten.
Die Sicherheit unseres Lebens, unserer Freiheit und unserer Existenzgrundlagen: Diese Dimensionen der menschlichen Sicherheit werden die Basis unserer Nationalen Sicherheitsstrategie darstellen.
Die Strategie wird interne und externe Sicherheitsaspekte umfassen und Politikbereiche vom Katastrophenschutz bis hin zur NATO‑Planung vereinen. Und sie wird mit Blick auf die Verteidigung der menschlichen Sicherheit alle einschlägigen Akteure zusammenbringen.
Eins ist völlig klar: Wir werden uns weiterhin auf die Arbeit des Beirats der Bundesregierung für zivile Krisenprävention und Friedensförderung stützen.
Denn Ihre fachliche Perspektive und Ihre Ratschläge sind wichtig – und sie retten Leben.
Ein gutes Beispiel dafür ist Afghanistan. Ich bin sehr dafür, dass wir darüber nachdenken, was in Afghanistan falsch gelaufen ist – nicht um herauszufinden, wer Schuld hat, sondern um für die Zukunft zu lernen. Systematische Evaluierungen werden genau das bewirken und dazu beitragen, dass wir künftig bessere Arbeit leisten können – auch mit Ihrer Hilfe.
Viele von Ihnen haben solche Evaluierungen schon lange empfohlen. Ich freue mich sehr, dass zwei Beiratsmitglieder, Hans-Joachim Gießmann und Winfried Nachtwei, jetzt auch in der Enquete‑Kommission des Bundestags sitzen, der unseren Einsatz in Afghanistan bewerten wird. So können wir lernen und besser werden.
Meine Damen und Herren,
ich möchte Ihnen für Ihre Kompetenz, aber auch für Ihre stets konstruktive Kritik und Ihr Engagement danken.
Sie alle sind der Beweis: „Prevention is glorious“.
Denn Krisenprävention kann Leben retten. Nicht nur in Südsudan, sondern auch in Niger, in der Ukraine – und bei uns in Deutschland.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen gute Gespräche.
Herzlichen Dank für Ihr Engagement.