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„Putins Wahnvorstellung ist nicht aufgegangen“
Außenministerin Annalena Baerbock im Interview mit der Bild am Sonntag.
Frage: Frau Baerbock, erinnern Sie sich noch, wo und wie Sie vor einem halben Jahr, am 24. Februar, vom Kriegsbeginn in der Ukraine erfahren haben?
Außenministerin Annalena Baerbock: Ja, mehr als eindringlich. Vom ersten Tag an als Ministerin hat man mir eingebläut: Machen Sie nachts niemals Ihr Handy komplett aus, immer zumindest auf Vibration. Und in den frühen Morgenstunden, gegen halb fünf vibrierte dann mein Handy. Ich musste erstmal realisieren, dass es meins ist. Ich bin dann natürlich sofort ins Auswärtige Amt gefahren.
Frage: Mehr als sechs Monate dauert Putins Angriffskrieg nun schon. Ein Ende ist nicht in Sicht, oder?
Außenministerin Baerbock: Derzeit leider nicht. Wir müssen uns darauf einstellen, dass dieser Krieg noch Jahre dauern könnte. Denn leider hat die russische Regierung von ihrer fixen Idee, die Ukraine und ihre Menschen zu unterwerfen, nicht abgelassen. Bei allem Leid müssen wir aber auch festhalten: Die Wahnvorstellung des russischen Präsidenten, die Ukraine in kürzester Zeit einzunehmen, ist nicht aufgegangen. Der Mut der Ukrainer und auch die internationalen Waffenlieferungen haben dazu geführt, dass die russischen Soldaten ihre Paradeuniformen für den Sieg nicht auspacken konnten. Wir werden alles tun, damit das auch niemals Realität wird.
Frage: Wie könnte denn überhaupt ein Waffenstillstand erreicht werden?
Außenministerin Baerbock: Ganz einfach: Indem Putin die die Bombardierungen von unschuldigen Menschen endlich einstellt und seine Panzer abzieht. Den Befehl dazu könnte Putin jederzeit geben. Er greift die Ukraine an. Damit könnte er jede Minute aufhören und dem Leid ein Ende machen.
Frage: Die Ukraine besteht auf der Rückeroberung ihres Staatsgebietes inklusive der Krim. Ist das realistisch?
Außenministerin Baerbock: Auch die Krim gehört zur Ukraine. Die völkerrechtswidrige Annexion von 2014 hat die Welt nie anerkannt.
Frage: Deutschland hat sich mit der Lieferung schwerer Waffen sehr schwer getan. Kriegt die Ukraine jetzt, was sie braucht, um sich gegen Russland zur Wehr zu setzen?
Außenministerin Baerbock: Wir liefern schwere Waffen. Und ich verstehe, dass sich die Ukrainer mehr und schnellere Lieferungen wünschen. Aber funktionierende, hochmoderne Systeme, die gerade vor allem gebraucht werden, stehen nicht massenhaft transportfähig in unseren Beständen. Und zugleich haben wir unseren Bündnispartnern zum Beispiel im Baltikum versprochen, dass wir jeden Zipfel des NATO-Gebiets mitverteidigen würden. Für diesen Fall muss die Bundeswehr handlungsfähig sein. Daher liefern wir mit anderen zusammen, was gerade geht, und haben vor allem zusätzliche Rüstungsproduktion in Auftrag gegeben.
Frage: Aber die Schlacht gegen Putin wird doch gerade in der Ukraine geschlagen.
Außenministerin Baerbock: Ja, und darum produziert ja jetzt die Rüstungsindustrie direkt für die Ukraine. Natürlich würde ich mir wünschen, dass der Krieg schnellstmöglich vorbei ist, aber wir müssen leider davon ausgehen, dass die Ukraine auch im nächsten Sommer noch neue schwere Waffen von ihren Freunden braucht. Für mich ist klar: Die Ukraine verteidigt auch unsere Freiheit, unsere Friedensordnung, und wir unterstützen sie finanziell und militärisch – und zwar so lange es nötig ist. Punkt.
Frage: Handelt es sich um Putins Krieg oder um Russlands Krieg?
Außenministerin Baerbock: Es ist Putins Krieg, weil er eben nicht demokratisch regiert. In einer Demokratie hätte es längst einen Aufstand gegen diesen Krieg gegeben, der ja auch seinem eigenen Volk schadet. Aber wer in Russland aufmuckt, wird unterdrückt, verhaftet, eingesperrt, und zwar seit Jahren.
Frage: Haben Sie keine Sorge, dass Europa und Deutschland kriegsmüde werden und die Solidarität mit der Ukraine bröckelt?
Außenministerin Baerbock: Nein, wenn wir das nicht herbeireden. Ich erlebe ich weiterhin unglaublich viel Unterstützung für die Ukraine. In den Schulklassen, in den Familien, die Ukrainer aufgenommen haben und bei all denen, die eindringlich an mich appellieren – ob 8- 18- oder 80-jährig – bitte lassen Sie die Menschen in der Ukraine nicht sterben, helfen sie weiter. Klar spüren inzwischen alle die Folgen von Putins Energiekrieg am eigenen Geldbeutel. Die soziale Spaltung Europas gehört zur Kriegsführung Putins. Dies müssen wir verhindern. Das wird ein steiniger Weg, aber es gehört zur politischen Verantwortung, die sozialen Schieflagen in Folge hoher Energiepreise abzufedern.
Was muss die Regierung dafür beschließen?
Außenministerin Baerbock: Als erstes müssen wir mit dem Selbstbetrug aufräumen, wir hätten jemals billiges Gas aus Russland erhalten. Wir haben vielleicht nicht mit viel Geld bezahlt, aber mit unserer Sicherheit und Unabhängigkeit. Und die Ukrainer haben das tausendfach mit ihrem Leben bezahlt. Die Rechnung kam spät, aber umso dramatischer.
Wenn Putin Nord Stream 1 ganz dicht machen würde, sollten wir dann Nord Stream 2 öffnen - so wie es Bundestagsvizepräsident Kubicki fordert?
Außenministerin Baerbock: Ich frage mich manchmal, ob einige nicht verstanden haben, dass das kein Spiel mit Regeln ist und kein plötzlicher Lieferengpass. Die Gaspipelines aus Russland sind schon lange keine normalen Leitungen mehr, sondern Waffen in einem hybriden Krieg. Wenn Putin nicht durch Nord Stream 1 liefert, warum sollte er durch Nord Stream 2 liefern? Durch Nord Stream 1 fließt doch nicht zu wenig Gas, weil die Leitung kaputt wäre, sondern weil Putin es nicht will.
Um trotz Ukraine-Krieg über den Winter zu kommen, wird gerade um jede Kilowattstunde Strom und Gas gerungen. Halten Sie es da wirklich für richtig, unsere letzten drei Atomkraftwerke abzuschalten?
Außenministerin Baerbock: Ich halte alle Maßnahmen für richtig, die uns helfen, gut über den Winter zu kommen. Aber: Ich bin nicht überzeugt, dass Atomkraftwerke unser Gasproblem lösen werden. Ob wir noch ein Stromproblem in Bayern bekommen könnten, weil man dort den Netzausbau verschleppt hat, wird derzeit im Stresstest überprüft.
Heißt: Wenn der Stresstest ergibt, dass ein Streckbetrieb sinnvoll ist, würden Sie den Grünen empfehlen, die Atomkraft länger zu nutzen?
Außenministerin Baerbock: Denjenigen, die gerade über Atomkraft reden, geht es nicht um den Streckbetrieb. Sie wollen eine Rolle rückwärts zur Atomkraft. Wir haben für das Hin und Her beim Atomausstieg im letzten Jahrzehnt viele Milliarden bezahlt. Das jetzt wieder umzuwerfen, wäre Irrsinn und würde uns noch teurer zu stehen kommen.
Linke und AfD rufen ja nun zu einem heißen Protest-Herbst auf – glauben sie, dass ein schlimmer Wut-Winter mit Entlastungspaketen noch zu verhindern ist?
Außenministerin Baerbock: Ich glaube, dass die Menschen in unserem Land sehr genau durchschauen, wer da versucht, politisches Kapital aus dem Krieg und den hohen Energiepreisen zu schlagen. Politiker und Parteien, die sich so für Putins Spiel einspannen lassen, sollten sich erinnern, was für ein Glück es ist, dass wir in einem demokratischen Land leben, in dem freie Meinungsäußerung und auch Proteste möglich sind.
Kritisch ist die Lage in Mali. Warum wollen Sie, dass die Bundeswehrsoldaten unbedingt dort bleiben?
Außenministerin Baerbock: Weil sie Menschenleben schützen. Mir haben Frauen in Mali sehr klar gesagt: Ohne die Präsenz der UN könnten sie nicht in Sicherheit auf den Markt gehen, könnten sie ihre Kinder nicht in die Schule schicken ohne Angst haben zu müssen, dass sie auch wieder nach Hause kommen. Wir sind nicht alleine in Mali, sondern im Rahmen der Vereinten Nationen. Bei der UN-Mission MINUSMA sind mehr als 12.000 Soldaten aus 57 Nationen eingesetzt. Die Bundeswehr stellt unter den westlichen Staaten das größte Kontingent.
Die Verteidigungsministerin möchte die Bundeswehrsoldaten abziehen…
Außenministerin Baerbock: Wir tragen Verantwortung für die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten. Wenn wir die nicht gewährleisten können, haben wir keine andere Wahl als den Einsatz zu beenden, da bin ich mir mit Christine Lambrecht völlig einig. Wir haben aber auch Verantwortung dafür was passiert, wenn wir überstürzt abziehen: Wenn ganze Landstriche in die Hände von Islamisten fallen, Mädchen nicht mehr zur Schule können oder ganz Mali zum Vasallen Russlands wird, werden wir die Auswirkungen auch in Europa spüren. Sei es durch neue Flüchtlingsströme oder sogar Anschläge.
Ist die Lage nach dem Abzug der Franzosen nicht zu gefährlich geworden?
Außenministerin Baerbock: Die Lage in Mali war immer gefährlich. Sonst wären dort nicht seit knapp 10 Jahren mehr als 12.000 Blauhelm-Soldaten. Zur Realität gehört auch, dass sich die Sicherheitslage und die Rahmenbedingungen des Einsatzes in letzter Zeit verschlechtert haben. Die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten hat für die gesamte Bundesregierung weiterhin höchste Priorität. Und deshalb haben wir nach dem Abzug der Franzosen unsere Truppen aufgestockt. Und natürlich gilt es auch, den Wegfall der wichtigen französischen Kampfhubschrauber zu kompensieren. Bangladesch hat hier Bereitschaft gezeigt.
Hubschrauber aus Bangladesch? Die Bundeswehr ist dazu nicht in der Lage?
Außenministerin Baerbock: Wenn zuletzt von 50 Tiger-Kampfhubschraubern nur 9 einsatzbereit waren, können wir davon nicht die Hälfte nach Mali schicken. Und klar könnte ich es mir da ganz einfach machen und sagen: das war’s. Verantwortungsvoll fände ich das aber nicht. Daher suche ich mit anderen internationalen Partnern nach Lösungen, damit wir die Menschen im Sahel nicht ihrem Schicksal überlassen und vor allem Russland nicht auch noch diese Region überlassen.
Interview: Roman Eichinger, Burkhard Uhlenbroich, Alexandra Würzbach