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„Haben uns nicht genug damit auseinandergesetzt, was Wehrhaftigkeit bedeutet“ - Außenministerin Annalena Baerbock im Interview mit der WELT
Frage: Frau Ministerin, mögen Sie keine Blumen? Oder warum lassen Sie bei internationalen Besuchen ausrichten, dass Sie nicht mit einem Blumenstrauß begrüßt werden wollen?
Außenministerin Baerbock: Ich bekomme grundsätzlich sehr gerne Blumen geschenkt, insbesondere zu meinem Geburtstag. Wenn ich allerdings auf einem Flughafen gerade aus einer Regierungsmaschine aussteige oder an einer Kupfermine stehe, sind große Blumensträuße eher unpraktisch. Und der unbedarfte Zuschauer würde vielleicht nicht darauf wetten, dass die Frau mit den Blumen die Außenministerin der Bundesrepublik Deutschland ist, weswegen man Männern auch selten an Regierungsfliegern oder Kupfergruben Blumensträuße in die Hand drückt.
Frage: Das bringt uns zum Thema feministische Außenpolitik. Sie haben ein Konzept vorgestellt, das mit „gendersensiblen“ und „gendertransformativen“ Ausgabenzielen operiert. Verspielen Sie mit dieser Sprache nicht Sympathien für Ihr Projekt?
Außenministerin Baerbock: Ich habe selten so viel Feedback auf Vorschläge bekommen, Kritik aber auch viel Lob. Es scheint also viele zu bewegen. Und genau darum geht es. Dass wir endlich dazu kommen, dass das Selbstverständliche Wirklichkeit wird. Dass Frauen die gleichen Rechte, den gleichen Zugang zu Ressourcen und die gleiche Repräsentation haben. Denn wenn man sich in der Welt umschaut, dann ist das Selbstverständliche – wie Kritiker der Feministischen Außenpolitik diese nennen – eben nicht so selbstverständlich. Sonst hätten wir unter unseren Botschaftern nicht nur 26 Prozent Frauen. Sonst hätten wir nicht nach wie vor noch Friedensverhandlungen, wo keine einzige Frau mit am Tisch sitzt, obwohl Frauen gerade in Kriegen oftmals die ersten Opfer sind. Wenn wir das „Konzept zur Umsetzung der Gleichstellung von Mann und Frau“ genannt hätten, hätte es auch nicht diese Aufmerksamkeit für die realen Probleme gebracht, um die es uns geht.
Frage: Eine Kritik, die sich gegen die Umsetzung der feministischen Außenpolitik richtet, betrifft Ihre Haltung zum Iran. Die Anhänger der Frauenrechtsbewegung fordern, die Revolutionsgarden auf die EU-Terrorliste zu setzen. Ihr Haus argumentiert, dafür bräuchte es mindestens Ermittlungen gegen die Garden innerhalb der EU – dabei gibt es solche Ermittlungen in Nordrhein-Westfalen derzeit. Argumentieren Sie juristisch, weil Sie die Terrorlistung gar nicht wollen, etwa weil Sie um Deutschlands guten Kontakt zum Iran fürchten?
Außenministerin Baerbock: Nein. Wenn jemand seine eigene Bevölkerung, insbesondere die Frauen, so terrorisiert, wie das das iranische Regime und Revolutionsgarden machen, dann ist eine Listung offenkundig moralisch richtig. Aber Feministische Außenpolitik bedeutet nicht, dass man sich das Recht zurechtbiegt. Daher habe ich den Juristischen Dienst des Rates der EU um eine Einschätzung gebeten, ob eine Listung der Revolutionsgarden unter dem europäischen Anti-Terror-Sanktionsregime aktuell möglich ist. Die Antwort lautete: nein. Darum haben wir einen anderen Mechanismus mit gleicher Sanktionswirkung gewählt, nämlich Menschenrechtssanktionen gegen verantwortliche Kommandeure der Revolutionsgarden. Den Frauen im Iran wäre nicht geholfen, wenn eine Listung sofort vor dem Gericht der Europäischen Union einkassiert würde. Das wäre Wasser auf die Mühlen derjenigen, die ihre eigene Bevölkerung terrorisieren.
Frage: Das Atomabkommen mit dem Iran droht endgültig zu scheitern. Das Land ist bald nuklearwaffenfähig. Hat Israel das Recht, sich militärisch zu verteidigen, wenn es sich durch Irans Atomprogramm bedroht sieht?
Außenministerin Baerbock: Nach der UN-Charta hat jedes Land der Welt ein Recht auf Selbstverteidigung. Das unterstreichen wir auch mit Blick auf die Ukraine. Und Israels Sicherheit gehört zur deutschen Staatsräson. Bedauerlicherweise hat das iranische Regime schon im ganzen letzten Jahr die Gespräche zur Nuklearvereinbarung ziemlich ad absurdum geführt. Zugleicht gilt: Das Selbstverteidigungsrecht hat enge Grenzen, gerade mit Blick auf Präventivmaßnahmen. Eine militärische Eskalation im Nahen und Mittleren Osten ist für die Menschen dort ein Schreckensszenario, das wir mit allen uns zur Verfügung stehenden diplomatischen Mitteln verhindern müssen. Gemeinsam mit unseren internationalen Partnern machen wir Iran deutlich, dass es zu keiner höheren Anreicherung kommen darf.
Frage: Die Kämpfe in der Ostukraine sind besonders hart. Glauben Sie, dass die Ukraine stark genug ist, um Russland zum Rückzug zu zwingen? Sehen Sie eine Chance auf Frieden in der Ukraine in diesem Jahr?
Außenministerin Baerbock: Wir arbeiten Tag und Nacht für den Frieden. Solange Putin unschuldige Menschen bombardiert, die UN-Charta bricht und seine Truppen nicht zurückzieht, versuchen wir zu helfen, durch Unterstützung der Ukraine Menschenleben zu retten. Und zwar solange wie nötig – mit Waffenlieferungen, aber auch mit finanzieller Hilfe, mit Medikamenten, beim Wiederaufbau etwa von Schulgebäuden oder der Wasser- und Stromversorgung. Klar ist: Militärisch allein lässt sich auf Dauer kein Frieden und keine Freiheit schaffen. Aber solange der russische Präsident der Ukraine die Waffe an den Kopf hält, wären Verhandlungen Erpressung.
Frage: Die Ukraine fordert, dass Beitrittsgespräche mit der EU noch dieses Jahr beginnen. Und sie fordert förmliche Sicherheitsgarantien von der Nato. Halten Sie eins von beidem für möglich?
Außenministerin Baerbock: Ich ziehe meinen Hut davor, wie das Land mitten im Krieg Reformschritte auf den Weg gebracht hat, um einen schnellen Beitritt zur EU zu ermöglichen. Aber so sehr die Ukraine in die Europäische Union gehört, kann es bei Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, den gemeinsamen europäischen Werten keinen Rabatt geben. Deswegen hängt der Beitritt vom Reformprozess ab. Die Nato wiederum verfolgt bekanntermaßen eine Politik der offenen Tür, weil souveräne Staaten selbst entscheiden können, zu welchem Bündnis sie gehören wollen. Im Fall der Ukraine stellt sich diese Frage nicht heute, erstmal muss dieser furchtbare Krieg zu Ende sein. In unserer Unterstützung für die Selbstverteidigung der Ukraine und ihr Existenzrecht werden wir daher nicht ablassen.
Frage: Die Sorge ist groß, dass die ehemaligen Sowjet-Republiken Georgien und Moldau Richtung Moskau driften könnten. Obwohl die georgische Regierung ihr umstrittenes Gesetz zur Gängelung zivilgesellschaftlicher Organisationen zurückgenommen hat. Sie reisen bald nach Georgien. Teilen Sie die Befürchtungen?
Außenministerin Baerbock: Es gehört zur Strategie Russlands, Gesellschaften zu destabilisieren, die sich auf den europäischen Weg begeben. Und gerade jetzt, wo Putins militärischer Erfolg in der Ukraine sich nicht wie geplant einstellt, ist es kein Zufall, dass die russischen Versuche der Einflussnahme in Moldau und Georgien zunehmen, und Regierungen torpediert werden, die Vetternwirtschaft und Korruption bekämpfen, um sich von der russischen Abhängigkeit zu lösen. Gerade deswegen reise ich jetzt nach Georgien, deswegen habe ich ja im Frühjahr letzten Jahres die Moldau-Plattform initiiert. Mit den Menschen in Georgien wie Moldau teilen wir europäische Werte. Ihren Wunsch, selbstbestimmt in Frieden und Freiheit zu leben, unterstützen wir durch die europäische Beitrittsperspektive.
Frage: Führen die zunehmenden Spannungen zwischen den USA und China zu einem neuen Kalten Krieg?
Außenministerin Baerbock: Seit dem Kalten Krieg hat die Welt sich verändert. Neue Akteure sind hinzugekommen. Mit seiner Wirtschaftskraft ist Europa ein starker Player in der Welt. China ist eine der stärksten Industrienationen geworden, die bedauerlicherweise zugleich immer mehr Abstand nimmt von internationalen Regeln. Aber auch große Demokratien wie Indien, Brasilien oder Nigeria spielen heute eine wichtige Rolle. Wir leben nicht in einer zweigeteilten Welt, sondern in einer multipolaren Welt mit unterschiedlichen Akteuren und globalen Herausforderungen, die wir nur gemeinsam lösen können. Bekämpfung der Klimakrise, Pandemien oder auch weltweite Ernährungskrise – das geht nur gemeinsam. Zugleich dürfen wir nicht darüber hinwegsehen, dass einzelne Akteure wie China oder Russland internationale Regeln, die die Welt immer verbunden haben, nicht mehr in Gänze teilen. Demokratien stehen heute im Systemwettstreit mit autokratischen Kräften.
Frage: Ihr Haus bereitet gemeinsam mit anderen Ressorts die neue China-Strategie der Bundesregierung vor. Wann könnte die Strategie vorgestellt werden, und welche Eckpunkte können Sie schon nennen?
Außenministerin Baerbock: Ich habe immer gesagt, dass erst die Nationale Sicherheitsstrategie kommt, dann die China-Strategie. Sie müssen sich also nicht mehr allzu lange gedulden.
Frage: Bei der Arbeit an einer neuen China-Strategie soll es Unstimmigkeiten zwischen Ihnen und Bundeskanzler Olaf Scholz geben. In einem Entwurf Ihres Ministeriums geht es angeblich um größere Unabhängigkeit von der Volksrepublik, aber auch um mögliche Importstopps der EU für chinesische Produkte, wenn „Lieferketten frei von Menschenrechtsverletzungen“ nicht anders sichergestellt werden können. Sind da Konflikte mit dem Kanzleramt und der Industrie nicht absehbar?
Außenministerin Baerbock: Wir schreiben die China-Strategie in enger Abstimmung mit allen Ministerien und auch mit dem Kanzleramt. Und wir tauschen uns mit sehr vielen deutschen Unternehmen aus, große wie Mittelständler. Wir sind uns einig, dass wir uns in einer globalisierten Welt nicht von China abkoppeln können. Aber wir dürfen nicht naiv sein, denn unsere offene Gesellschaft ist Stärke und Verletzbarkeit zugleich. Die Erfahrungen vieler Mittelständler haben gelehrt, dass wir Garantien für fairen Wettbewerb brauchen, Schutz dagegen, dass das Knowhow unserer Firmen in China abgeschöpft wird, um es dann auf unseren Märkten gegen uns zu verwenden. China ist Wettbewerber, Partner, aber auch systemischer Rivale. Große, börsennotierte Konzerne mögen vor allem den kurzfristigen Gewinn auf dem chinesischen Markt im Blick haben. Wir als Bundesregierung sind den langfristigen volkswirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet. Konkret bedeutet das zum Beispiel, dass wir in unserer kritischen Infrastruktur nicht Produkte einbauen, mit denen unsere Bürger ausspioniert werden können.
Frage: In dem Entwurf werden angeblich auch Bedingungen für die Ratifizierung des EU-Investitionsabkommens mit China genannt, das schon lange auf Eis liegt. Ist dieses Abkommen nicht schon tot?
Außenministerin Baerbock: Es ist interessant, wie viele Dinge in einem noch gar nicht fertiggestellten Entwurf angeblich schon beschlossen sind. Aber sei es drum. Das EU-Investitionsabkommen soll den Marktzugang für europäische Unternehmen in China verbessern, der stark reglementiert ist und sehr viel beschränkter als der Zugang chinesischer Firmen zum europäischen Markt. Zugleich sollte man wissen, dass die Verhandlungen zu diesem Abkommen vor rund 10 Jahren begonnen wurden, also zu einer ganz anderen Zeit. Klar ist: was für chinesische Firmen auf dem europäischen Markt gilt, muss auch für europäischen Unternehmen in China gelten. Die Ratifikation des Abkommens liegt allerdings unter anderem wegen der Sanktionen, die die chinesische Regierung gegen eine ganze Reihe von Europäern verhängt hat, darunter auch Abgeordnete des Europäischen Parlaments, weiterhin auf Eis.
Frage: Die China-Strategie will auch dem Einfluss der Volksrepublik in Afrika begegnen. Wie kann das geschehen?
Außenministerin Baerbock: Sorry, aber so absolut stimmt das natürlich nicht. Ja, wir machen uns Sorgen und entwickeln auf europäischer Seite Strategien, wie wir Ländern helfen können, um aus chinesischer Abhängigkeit zu kommen. Aber wir bilden uns natürlich nicht ein, dass wir alle Probleme der Welt aus Deutschland lösen können. Wir Europäer haben lange Jahre an eine vermeintlich heile Welt geglaubt, in der uns Herausforderungen in anderen Erdteilen nicht wirklich tangieren. Die Lücke, die wir gelassen haben, hat China strategisch genutzt, um seinen Einfluss auszubauen, indem es wirtschaftliche Abhängigkeiten geschaffen hat. Etwa mit dem Programm der sogenannten Neuen Seidenstraße.
Dem haben wir nicht genug entgegengesetzt. Im Systemwettbewerb mit China muss Europa geopolitisch aktiver werden. Wir können Chinas geostrategische Investitionen nicht verhindern, aber wir können bessere Angebote an Länder machen, nämlich faire Handelsabkommen, in denen nicht einfach Rohstoffe abgezogen werden, sondern auch ein Teil der Produktion in diesen Ländern entsteht, und damit Arbeitsplätze und Wachstum. Anders als China nutzen wir Rückzahlungsschwierigkeiten bei Krediten nicht, um politischen Druck auf die Empfänger auszuüben und etwa ein bestimmtes Abstimmungsverhalten in den Vereinten Nationen zu erzwingen.
Frage: Wie steht es mit Ländern, die schon bis über beide Ohren in China verschuldet sind, etwa einige Balkanstaaten oder Ungarn?
Außenministerin Baerbock: Wir müssen den Ländern Angebote machen, sich aus dieser Abhängigkeit zu lösen. Darum bin ich im vergangenen Jahr sehr strategisch in Länder gereist, die finanziell abhängig von China geworden sind, um Unterstützung anzubieten. Äthiopien etwa, aber auch europäische Staaten. Zur Ehrlichkeit gehört aber auch: Es gab Länder in Europa, die in der Euro-Krise oder der Corona-Pandemie um Hilfe gebeten haben, und als wir nicht geholfen haben, sind die Chinesen eingesprungen. Ungarn wiederum ist ein Fall für sich, dort müssen wir auch mit Blick auf chinesische Investitionen auf die Einhaltung europäischer Regeln achten. Zugleich gilt: Wenn wir Ländern helfen, sich auch aus der Abhängigkeit zu lösen, dann müssen wir uns darauf verlassen, dass nicht hinter unserem Rücken plötzlich doch Geschäfte mit denjenigen gemacht werden, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit oder Menschenrechte mit Füßen treten. Daher spreche ich diese Themen eben auch so deutlich an.
Frage: Ihr Ministerium arbeitet gemeinsam mit dem Kanzleramt auch an einer Nationalen Sicherheitsstrategie. Es soll aber keinen Nationalen Sicherheitsrat geben – angeblich, weil Sie und Olaf Scholz sich nicht einigen konnten, in wessen Ressort der Rat beheimatet wäre. Passt das zum selbstgewählten Motto der „integrierten Sicherheit“?
Außenministerin Baerbock: Der Sicherheitsrat wurde von Teilen der Öffentlichkeit sehr intensiv aber auch sehr theoretisch diskutiert. Er war aber bei weitem nicht Kern der Diskussion zwischen den Ressorts. Denn einfach ein Modell aus den USA zu kopieren, schafft kein Mehr an Sicherheit. Bekanntermaßen hat die USA ein Präsidialsystem – wir in Deutschland haben Koalitionsregierungen. Daher schaffen wir mit der Nationalen Sicherheitsstrategie einen neuen Ansatz der integrierten Sicherheit, der zu unserem Regierungssystem, zu unserer Gesellschaft passt. Und zwar nicht, weil er auf dem Papier schön heißt, sondern weil wir ihn in der Praxis brauchen. Integrierte Sicherheitspolitik ist mehr als die Vernetzung von Diplomatie, Militär und Entwicklungszusammenarbeit. Es geht darum, bei all unseren Entscheidungen Auswirkungen für die Resilienz von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft mitzudenken – innen- und außenpolitisch, auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene, beim Katastrophenschutz und dem Schutz kritischer Infrastruktur.
Frage: Dann wäre es doch naheliegend, alles das in einer gemeinsamen Runde zu bündeln.
Außenministerin Baerbock: Genau. Das haben wir in diesem so schwierigen letzten Jahr getan, in Form des Sicherheitskabinetts, wo die sicherheitsrelevanten Ministerinnen und Minister unter Federführung des Kanzleramtes zusammenkommen. Darunter tagt regelmäßig die Beamtenebene.
Frage: Kann es bei den Rüstungsexport-Richtlinien Lockerungen für europäische Gemeinschaftsprojekte geben?
Außenministerin Baerbock: Weil wir geglaubt haben, dass unsere Kinder, so wie wir, immer in Frieden leben werden, haben wir uns als Politik und Gesellschaft in der Vergangenheit nicht genug damit auseinandergesetzt, was eigentlich Wehrhaftigkeit bedeutet. Auch wenn wir in der Nato und auch in der EU bei Sicherheits- und Verteidigungsfragen schon lange eng zusammenarbeiten. Aber der russische Angriffskrieg hat uns gezeigt, dass Munition und Ausrüstung zwischen den europäischen Ländern nicht automatisch miteinander kompatibel sind. Deswegen erarbeiten wir jetzt mit unseren Partnern eine Strategie, wie wir auch im Rüstungsbereich industriepolitisch stärker kooperieren können. Das bedeutet auch, dass wir eine gemeinsame Linie für Exporte brauchen. Bisher gibt es trotz eines sogenannten gemeinsamen europäischen Standpunktes dazu sehr unterschiedliche nationale Haltungen, was uns gerade bei Gemeinschaftsprojekten vor Herausforderungen stellt. Ich habe auch in meiner eigenen Partei daher intensive Diskussionen dazu geführt, dass bei europäischen Gemeinschaftsprojekten nicht ein Land erst Verträge unterschreiben kann, auf deren Bindung sich die Partner verlassen, und dann sagt, uns ist nachher noch was eingefallen. Zugleich dürfen wir durch Rüstungsexporte nicht das konterkarieren, was wir außenpolitisch aufbauen. Wenn wir Bombardements von Zivilbevölkerung aufs Schärfste verurteilen, können wir nicht zugleich die Munition dahin exportieren. Darum brauchen wir gemeinsame europäische Regeln, wohin exportiert wird. Und was geschieht, wenn schwerste Menschenrechtsverletzungen begangen werden, ob man sich dann aus erteilten Exportgenehmigungen auch zurückziehen kann.
Frage: Kürzlich sind bei einem Schiffsunglück vor der italienischen Küste 80 Migranten ums Leben gekommen, 33 davon Kinder. Italiens Regierung weist jede Verantwortung von sich. Stattdessen werden die Seenotrettungsorganisationen kriminalisiert, die solche Unglücke verhindern wollen. Braucht die EU wieder eine Seenotrettungsmission, wie sie vor drei Jahren eingestellt wurde?
Außenministerin Baerbock: Sich vorzustellen, man würde selbst auf diesem Boot sitzen und es wäre das eigene Kind, das im Mittelmeer ertrinkt – bei so einem Gedanken kann niemand ruhig schlafen. Das Sterben im Mittelmeer ist Europas offene Wunde, weil wir es nicht geschafft haben, zu einer gemeinsamen Migrations- und Flüchtlingspolitik zu kommen. So schwer es ist, müssen und werden wir weiter hart an einer gemeinsamen Position arbeiten. Wir dürfen die Staaten an der Außengrenze nicht allein lassen, weder mit den Menschen, die aus Seenot gerettet wurden, noch mit den Menschen, die an den Außengrenzen ankommen aber keinen Anspruch auf Asyl haben und zurückgeführt werden müssen. Wir brauchen gemeinsame Verantwortung und müssen die Solidarität stärken. Darum ist es aus meiner Sicht so wichtig, dass es eine europäische Seenotrettung gibt. Zugleich bedeutet das Verantwortung für die Länder an der Außengrenze, Menschen zu registrieren. Denn wir müssen wissen wer kommt. Dazu gehört aber auch, dass diese Menschen human behandelt und das diejenigen, deren Leib und Leben bedroht ist, gerettet werden. Das schließt auch Fragen der Verteilung mit ein, und zwar nicht auf Zuruf, sondern in einem geordneten Verfahren. Es braucht Humanität und Ordnung.
Interview: Pierre Avril, Daniel-Dylan Böhmer, Tonia Mastrobuoni, Elena Sevillano González und Jennifer Wilton