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„Wegducken rettet uns nicht“ – Außenministerin Baerbock im Interview mit dem Handelsblatt
Frage:
Frau Baerbock, Europa ist sterblich, hat jüngst Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gewarnt. Gilt das nicht nur politisch, sondern auch für den europäischen Binnenmarkt, der wirtschaftlich hinter den USA und China zurückfällt?
Annalena Baerbock:
Unsere Friedensunion ist nicht vom Himmel gefallen. Deshalb ist in Zeiten, in denen der Angriffskrieg auf den Europäischen Kontinent zurückgekehrt ist, die Stärkung des europäischen Pfeilers in der NATO lebenswichtig. Und auch mit Blick auf den tobenden globalen Wettbewerb teile ich die Worte des französischen Präsidenten in doppelter Hinsicht: als Warnung – und gleichzeitig als Plädoyer für ein starkes Europa. Je stärker der europäische Binnenmarkt, desto stärker auch die europäische Strahlkraft.
Frage:
Bei all der Bürokratie und Regulierung verblasst Europa eher
Annalena Baerbock:
Ganz und gar nicht. Wir spüren doch heute deutlicher denn je: Die EU ist unsere Lebensversicherung für Frieden und Freiheit. Ihr Fundament sind unsere rechtsstaatlichen Prinzipien – Werte und Regeln. Und zugleich darf dies uns in Krisenzeiten nicht blockieren. Das bedeutet, Bürokratie in unserem europäischen Binnenmarkt zu verschlanken ist wichtig – aber klare und faire Regeln sind es auch. Zur Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit haben wir aber noch ganz andere Hausaufgaben...
Frage:
Welche wären das?
Annalena Baerbock:
Unseren Binnenmarkt voll auszuschöpfen. Damit wir bei der Wettbewerbsfähigkeit wieder aufholen, brauchen wir endlich die Kapitalmarktunion. In der Umwelt- und Biotechnologie, aber auch bei Halbleitern und Künstlicher Intelligenz sind europäische Firmen weltweit ganz vorne mit dabei. Aber es fehlt gerade in diesen Schlüsselsektoren an Risikokapital.
Frage:
Das Glas ist also halbleer?
Annalena Baerbock:
Keineswegs: Europa ist stark, ist innovativ. Allein in Deutschland haben wir über 6.000 Start-Ups im KI-Bereich. Aber das gesamte Wagniskapital in diesem Sektor betrug in der EU nicht einmal 4 Milliarden Dollar. In den USA waren es im selben Zeitraum 30 Milliarden. Hier besser zu werden, daran arbeiten wir mit Hochdruck – gerade auch gemeinsam mit Frankreich. Noch stärker europäisch in Zukunftstechnologien investieren – darauf kommt es an.
Frage:
Schwebt ihnen da Airbus als größter Luft- und Raumfahrkonzern als Vorbild vor?
Annalena Baerbock:
Ja, wir müssen in kritischen Schlüsselindustrien unsere Kräfte mehr bündeln – zum Beispiel auch im Verteidigungsbereich mehr Europa wagen. Airbus ist ein Beispiel dafür, dass es auch im Rahmen der EU-Wettbewerbsregeln möglich war, ein Konsortium zu bilden. Industriepolitisch darf Europa nicht im internen Wettbewerb straucheln, sondern muss global gegen die großen Player bestehen können.
Frage:
Macron fordert eine europäische Industriestrategie. Liegt er da richtig?
Annalena Baerbock:
Es braucht eine europäische Industriestrategie und keine Kleinstaaterei. Auch Deutschland kann als drittgrößte Wirtschaftsnation der Welt nur dann im Wettbewerb mit den USA und China bestehen, wenn wir unsere gemeinsame Schlagkraft als Europäer nutzen. Daher arbeiten wir gerade an einer europäischen Industriestrategie, innerhalb derer die Player in der EU nicht gegeneinander, sondern miteinander agieren. Unser Binnenmarkt ist der größte integrierte Markt der Welt. Wenn wir das als Vorteil nutzen, haben wir global ökonomische Macht, auch bei den kritischen und sensiblen Zukunftstechnologien.
Frage:
Weil man zu klein wäre als Deutschland?
Annalena Baerbock:
Masse reduziert natürlich auch immer die Preise. Und ein großer Absatzmarkt ermöglicht große Stückzahlen, wie wir an China sehen. Zugleich produzieren sie deutlich günstiger. Wenn wir da in Europa durch Kooperation untereinander nicht mithalten können, dann werden wir das Nachsehen haben.
Frage:
Sie waren eine der Ersten, die vor einer Abhängigkeit von russischem Gas gewarnt haben – wiederholt Deutschland den gleichen Fehler mit China?
Annalena Baerbock:
In einer komplett vernetzten Welt ist Wirtschaftspolitik auch Sicherheitspolitik. Denn einseitige Abhängigkeiten machen uns verwundbar. Das reflektieren unsere Nationale Sicherheits- und unsere China-Strategie. Wir brauchen eine Wirtschaftssicherheitspolitik, die
neben der so notwendigen Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit und des ebenso wichtigen Schutzes des europäischen Binnenmarktes als dritte Säule den Ausbau unserer globalen Partnerschaften umfasst. Es geht um Diversifizierung und De-Risking, nicht Abschottung.
Frage:
Diversifizierung dauert aber sehr lange. Gerade bei der Abhängigkeit von Importen kritischer Rohstoffe aus China hat sich bislang fast nichts getan. Würden Sie sich da mehr Engagement wünschen, auch von der deutschen Wirtschaft?
Annalena Baerbock:
So wenig wie es die eine Politik gibt, gibt es die eine Wirtschaft. Der BDI hatte bereits vor Jahren vor einseitigen Abhängigkeiten in kritischen Bereichen, insbesondere von China, gewarnt. Und genau das setzen wir in der EU jetzt um. Wir sorgen dafür, dass bei kritischen Rohstoffen nicht mehr als 65 Prozent der Importe eines Stoffes aus einem einzigen Drittstaat kommen, und bauen Alternativen über neue Handelspartnerschaften und Bündnisse weltweit aus. Wir können jahrzehntelange Vernachlässigung von Wirtschaftspartnern aber nicht von heute auf morgen heilen. Die Fokussierung auf einige wenige Märkte hat dazu geführt, dass vor mir seit 2005 kein deutscher Außenminister in Malaysia, seit 13 Jahren keiner in Australien war. Dann muss man sich auch nicht über die Absurdität wundern, dass wir australisches Lithium bisher fast nur über China beziehen. Auch das ändert die Bundesregierung jetzt – zusammen mit deutschen Unternehmen.
Frage:
Das eine ist die Diversifizierung, das andere ist der Schutz von Unternehmen auf heimischen Märkten. Die EU-Kommission überlegt, Zölle auf chinesische E-Autos zu erheben. Ist das ein richtiger Schritt?
Annalena Baerbock:
Zunächst einmal: Wenn China nicht WTO-widrig Dumping betreibt, müssen wir auch nicht handeln. Wir sind ja kurz vor der Fußball-Europameisterschaft. Wie im Sport gilt: Wettbewerb befördert das Geschäft. Als starke Exportnation leben wir in Deutschland von freiem Handel. Protektionismus schadet uns. Aber wir dürfen nicht naiv sein. Wenn andere sich nicht an Spielregeln halten, dann schadet das unserem Wirtschaftsstandort. Und wenn es grobe Fouls gibt, dann müssen wie beim Fußball auch die Konsequenzen gezogen werden. Sonst verliert man.
Frage:
Was heißt das konkret?
Annalena Baerbock:
Wenn man deutsche und europäische Interessen schützen will, dann kann man nicht die Augen davor verschließen, wenn andere mit unfairen Methoden spielen. Egal ob das China oder auch die USA betrifft. Es gibt klare Regeln, dass Staaten nicht so stark und unbegründet subventionieren dürfen, so dass es zu Dumping und massiver Wettbewerbsverzerrung kommt. Und die EU-Kommission prüft, ob das bei E-Autos der Fall ist. Denn China hat ja auch in anderen Bereichen deutlich gemacht, dass es seine Wirtschaftsschwäche mit einer expansiven, wenn nicht aggressiven Exportoffensive bekämpfen will. Solange WTO-Recht nicht eingehalten wird, wären wir ja schön blöd, uns nicht mit Gegenmaßnahmen zu schützen, um eine Wettbewerbsverzerrung zu Lasten der europäischen Wirtschaft zu verhindern.
Frage:
Die Autoindustrie hat Sorge, dass es zu einer Gegenreaktion kommen wird und China dann auch Zölle erheben wird. Was sagen Sie diesen Unternehmen, die Angst vor einem Auto-Handelskrieg haben?
Annalena Baerbock:
Weder Handelskonflikte noch extreme Zölle sind im deutschen Interesse. Aber Wegducken und Ausblenden von Realitäten rettet einen ebenso wenig. Es geht um die Verteidigung von Marktprinzipien und des freien und fairen Welthandels, der allen nützt. Das gilt auch mit Blick auf die deutsche und europäische Automobilindustrie. Natürlich müssen wir da unsere Interessen schützen.
Denn wir haben mit Russland schon einmal erlebt, dass uns die Haltung „es wird schon nicht so schlimm kommen“, eben nicht vor der Winterangst geschützt hat, dass in Deutschland die Versorgung mit Wärme und Energie nicht mehr klappen könnte.
Frage:
Die Autoindustrie ist aber nicht für die Energieversorgung zuständig…
Annalena Baerbock:
Nein, aber Fehler sollte man nicht zweimal machen. Die Automobilindustrie ist das Rückgrat unserer Industrie. Daran hängen Millionen Arbeitsplätze. Ähnlich wie 2018 beim Stahl. Auch da sollten mit massiven Subventionen in China europäische Hersteller aus dem Markt gedrängt werden. Daher hat die EU gegenüber China deutlich gemacht: Wenn das bei den E-Autos und damit bei Schlüsseltechnologien wie Batterien auch passieren sollte, werden wir erneut EU-Schutzmaßnahmen ergreifen. Dieses Agieren sehen wir auch im Bereich von kritischen Rohstoffen. Es gab mal eine Gallium-Produktion bei Hamburg. Chinesische Wettbewerber haben dann den Preis massiv gedrückt. Die deutsche Firma gab auf. Und seit letztem Jahr exportiert China Gallium – das braucht man für Smartphones – nur noch gegen Exportlizenz. Wenn China plötzlich einen Lieferstopp verhängt, hätten wir kein Gallium mehr. Japan hat das 2010 mit Seltenen Erden erlebt. Und deswegen warne ich davor, naiv zu sein. Unsere Außenpolitik steht für eine Wirtschafts-Realpolitik.
Frage:
Der Kanzler ist zurückhaltender bei der Frage der Zölle.
Annalena Baerbock:
Nochmal: Zölle sind kein Ziel an sich. Auch für mich nicht. Nur ich möchte nicht ein zweites Mal auf brutale Art und Weise damit konfrontiert sein, dass andere unsere Blauäugigkeit ausnutzen. Und dann müssen wir als Politik mit Milliarden die Wirtschaft stützen. Das kann sich auch so ein starkes Land wie Deutschland kein zweites Mal leisten. Ganz im Sinne unseres schönen deutschen Sprichworts: In diesem Fall ist Vorsicht die Mutter der Porzellankiste.
Frage:
Die Bundesregierung schiebt seit Monaten eine Entscheidung auf, dass chinesische Technologie aus dem deutschen 5G-Netz entfernt werden muss. An wem hakt es?
Annalena Baerbock:
5G-Netze sind mittlerweile das zentrale Nervensystem unserer modernen Gesellschaften. Kein Auto der Zukunft, kein Handy, kein Arbeiten wird mehr ohne Mobilnetz funktionieren. Es gibt wenige Bereiche, die wir so gut schützen müssen wie diese kritische Infrastruktur. Wer uns hier angreift, kann uns von innen heraus lahmlegen. Deswegen ist es kein Zufall, dass viele Länder auf dieser Welt, insbesondere starke Volkswirtschaften, Vorsorge treffen. Die USA, Großbritannien, Schweden, Australien und auch China haben besondere Sicherheitsvorkehrungen für ihre Kommunikationsnetze.
Frage:
China macht das auch?
Annalena Baerbock:
Richtig. Die chinesische Regierung beschränkt ausländische Technologien in seinem Mobilnetz. Warum? Weil sie offensichtlich wissen, was man mit Spionage und Sabotage darin anrichten kann. So wie China für sich in Anspruch nimmt, kritische Schlüsseltechnologien zu schützen, sollten wir auch als Europäer, als Deutsche den besten Schutz für uns schaffen.
Frage:
Wann wird es denn eine Entscheidung geben?
Annalena Baerbock:
Wenn sie verkündet wird.
Frage:
Sie gelten als einee der chinakritischsten Stimmen in der Bundesregierung. Den chinesischen Staats- und Parteichef Xi Jinping haben Sie mal einen „Diktator“ genannt. Warum machen Sie das? Das wird Ihnen ja sicherlich den Umgang mit der chinesischen Führung nicht gerade leichter machen.
Annalena Baerbock:
Zu guter Diplomatie gehört, alle Tonarten spielen zu können. Sowohl leise hinter verschlossenen Türen zu agieren, aber auch die Dinge nicht ständig öffentlich schönzureden. Sonst nimmt einen keiner ernst. Zuzuhören, hinzuhören, aber auch gehört zu werden.
Frage:
Stärke muss man sich auch leisten können. Die deutsche Wirtschaft stagniert, da bringt die harte Gangart nur wenig.
Annalena Baerbock:
Stark ist man nur dann, wenn man viele Partner hat – auf die man sich am besten auch noch verlassen kann, weil sie die eigenen Interessen und Werte teilen. Und ich musste in den letzten 2,5 Jahren leider erfahren, wie viele unserer eigentlich „natürlichen“ Partner wir in der Vergangenheit weltweit vor den Kopf gestoßen haben, weil wir ihre Sorgen nicht ernst genommen haben. Ganz Osteuropa zum Beispiel mit Blick auf die Bedrohung durch Russland. Ich habe zu Beginn des Russlandkrieges weltweit herumtelefoniert, weil wir Partner auf der ganzen Welt brauchten, um unsere europäische Friedensordnung zu schützen.
Frage:
Wie lautete die Antwort?
Annalena Baerbock:
Ich habe oft gehört: Und wo wart Ihr, als wir Euch brauchten? Warum schweigt Ihr bei unseren Sorgen? Und manche dieser Länder hatten recht.
Frage:
Stichwort Taiwan: Wie ernst nehmen Sie die Drohungen der chinesischen Führung, sich die Insel notfalls auch gewaltsam zu eigen zu machen?
Annalena Baerbock:
Nicht nur ich, sondern auch viele andere hören in den letzten Jahren eine veränderte Tonlage aus Peking. Gegenüber vielen Nachbarn, insbesondere aber gegenüber Taiwan. Die chinesische Führung droht mit Kriegsschiffen und Flugzeugen, probt eine Blockade Taiwans. Anderen kleineren Staaten in der Region macht das logischerweise Sorgen. Aufgabe von vorausschauender Sicherheitspolitik ist es, gemeinsam mit allen anderen Staaten deutlich zu machen, dass wir keine unilaterale Verschiebung des Status Quo dulden können und für die freie Seefahrt einstehen. Auch aus eigenen wirtschaftlichen Interessen. Durch die Straße von Taiwan fährt jedes zweite Containerschiff der Welt mindestens einmal im Jahr.
Frage:
Es wirkt derzeit ein bisschen so, als bringe sich Ihr Parteikollege Robert Habeck in Stellung, Kanzlerkandidat der Grünen zu werden. Von Ihnen vernimmt man dagegen wenig Bestrebungen dahin. Haben Sie das Ziel aufgegeben?
Annalena Baerbock:
Sowohl für Robert Habeck als auch für mich gilt: Diese Zeiten sind zu turbulent als dass wir uns 1,5 Jahre vor der Bundestagswahl über Personalfragen den Kopf zerbrechen, zumal kurz vor der so wichtigen Europawahl. Und bekanntermaßen ist die Welt mit dem furchtbaren Konflikt in Nahost nicht friedlicher geworden. Daher bin ich als Außenministerin noch mehr in der Welt unterwegs, gebe also auch seltener Interviews als meine Kabinettskollegen.
Interview: Dana Heide und Thomas Sigmund