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Außenministerin Annalena Baerbock im Interview mit dem Stern
Frage:
Frau Baerbock, der Nahe Osten droht in Flammen aufzugehen. Die Ampelkoalition steht vor dem finalen Bruch. Und in Ihrer grünen Partei geht es drunter und drüber. Welcher Krisenherd bereitet Ihnen momentan am meisten Sorgen?
Annalena Baerbock:
Natürlich die internationale Lage. Wenn man so viel in Krisengebieten unterwegs ist, schärft das den Blick auf das eigene Land. Trotz aller Herausforderungen hier bei uns gilt: Was für ein Segen, dass wir in Deutschland in Freiheit leben. In einem Sozialstaat, in dem es selbstverständlich ist, dass alle Kinder zur Schule gehen und jeder krankenversichert ist. In einem Land, in dem wir nachts nicht die Sorge haben müssen, dass unser Haus von einer Bombe getroffen wird.
Frage:
Der monströse Angriff der Hamas auf Israel ist jetzt ein Jahr her. Können Sie sich an den Moment erinnern, als Sie davon erfuhren?
Annalena Baerbock:
Sogar ganz genau. Der Tag hat mir gezeigt, wie nah persönliches Glück und die Katastrophen der Welt in meinem Job als Außenministerin zusammenliegen können. Meine Tochter hatte an dem Tag Geburtstag. Plötzlich kamen die ersten unfassbaren Meldungen. Wenig später saß ich zu intensiven Krisengesprächen im Auswärtigen Amt.
Frage:
War Ihnen sofort die Dimension der Anschläge klar?
Annalena Baerbock:
Gänzlich zu erfassen war das ganze Ausmaß des Grauens erst nach und nach. Mehr als 1100 Menschen, die wie wir mit einem ganz normalen Samstag gerechnet hatten. Mehr als 1100 Menschen einfach abgeschlachtet – in ihrem Haus am Küchentisch, im Kinderzimmer, auf einem Musikfestival. Über den Tag wurde die Dimension dieses unmenschlichen Anschlags klar: Israel wurde mitten ins Herz getroffen. Eine Zäsur, mit der die Hamas eine ganze Region ins Chaos zu stürzen drohte.
Frage:
Es war das grausamste Massaker an Juden seit dem Holocaust. Israel reagierte mit dem Angriff auf Gaza. Noch immer sind etwa 100 Geiseln in den Händen der Hamas. Derweil eskaliert im Norden der Konflikt mit der libanesischen Hisbollah. Wie ohnmächtig oder wie frustriert fühlt man sich da als Außenministerin?
Annalena Baerbock:
An manchen Tagen sehr. Aber genau das ist das Ziel von Terroristen, dass wir ihnen das Heft des Handelns überlassen. Deswegen ist es das Wichtigste, nicht zu resignieren. Und auch wenn die Friedensbemühungen bislang nicht erfolgreich waren, rufe ich mir immer wieder in Erinnerung, dass für den Frieden jeder einzelne Schritt und jedes gerettete Menschenleben zählt. Es geht mir noch heute unter die Haut, wenn ich an den Moment denke, als ich einige Tage nach dem Hamas-Überfall unweit von Gaza Yoni Ascher traf. Einen gestandenen Familienvater, der völlig aufgelöst zu mir sagte: „Versprechen Sie mir eines als Mutter: Freuen Sie sich niemals, ein kinderfreies Wochenende zu haben. Denn das war mein Gedanke, als meine Frau mit meinen beiden kleinen Töchtern zu ihren Großeltern fuhr. Ich habe sie seither nicht wiedergesehen.“ Er zeigte mir auf seinem Handy ein Video, seine Frau mit den beiden Mädchen zusammengepfercht auf einem Truck, in der Gewalt von Terroristen. Ich habe mir geschworen: Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, dass Yoni Ascher seine Familie wieder in die Arme schließen kann. Er und die anderen Angehörigen der damals über 200 Geiseln.
Frage:
Was wurde aus der Familie?
Annalena Baerbock:
Es war November, ich stand mitten auf unserem Parteitag. Da kam seine erlösende Nachricht, dass in der humanitären Feuerpause, an der wir diplomatisch so heftig mit anderen gearbeitet, hatten, auch seine Frau und die beiden kleinen Mädchen freigekommen sind. Es war für mich eine der schönsten Nachrichten meiner bisherigen Zeit als Außenministerin.
Frage:
Sie sind seit den Terroranschlägen elf Mal in die Region gereist, neun Mal davon nach Israel. Konnten Sie wirklich etwas bewegen? Oder fühlt man sich ein bisschen wie eine Brieftaube?
Annalena Baerbock:
Man sollte Brieftauben nicht unterschätzen. Nicht nur früher spielten sie in Krisen und Kriegen oft eine wichtige Rolle. Heute fliegen Flugzeuge. Aber der Job einer Außenministerin ist derselbe. Wo politische Akteure nicht mehr miteinander reden, ist Vermittlung essenziell. Das ist der Kern von Diplomatie. Unter den ersten Geiseln, die freikamen, waren nicht durch Zufall etliche Deutsch-Israelis – so wie diese Familie.
Frage:
Mitte September explodierten im Libanon Pager- und Funkgeräte von Hisbollah-Mitgliedern. Nun gibt es israelische Luftangriffe auf den Libanon. Dabei sollen laut libanesischen Behörden über tausend Menschen ums Leben gekommen sein, darunter Zivilisten. Ist das noch Selbstverteidigung oder schon Staatsterrorismus?
Annalena Baerbock:
Was es bedeutet, täglich mit der Bedrohung zu leben, dass eine Rakete einschlägt, können wir uns kaum vorstellen. Das war und ist Alltag in Israel. Dort sind Rutschen auf Spielplätzen so gebaut, dass Kinder darunter Schutz suchen könnten. 80 000 Menschen sind wegen der Hisbollah seit einem Jahr aus dem Norden Israels evakuiert. Israel hat wie jedes Land der Welt nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, sich zu verteidigen, seine Menschen gegen die Hisbollah-Terroristen zu schützen. Ich habe aber auch immer klar gesagt: Das humanitäre Völkerrecht gilt, es verpflichtet alle dazu, Zivilisten zu schützen.
Frage:
Wie bewerten Sie die gezielte Tötung von Hisbollah-Chef Nasrallah: Ein militärischer Erfolg oder gefährliche Eskalation?
Annalena Baerbock:
Beide Perspektiven gibt es. In der rein militärischen Logik hat Israel mit der Ausschaltung Nasrallahs die Hisbollah massiv geschwächt. Nasrallah war Chef einer Terrororganisation und beileibe kein Unschuldiger. In der Logik dauerhafter Sicherheit für die Menschen in der Region stellt sich jedoch die Frage: Was kommt als nächstes? Wohin führt das? Hisbollah, möglicherweise unterstützt von Iran, wird auf Rache sinnen und ist vielleicht unberechenbarer denn je. Wir waren mitten in diplomatischen Verhandlungen zur Deeskalation, jetzt droht eine Gewaltspirale. Die Lage ist brandgefährlich. Daher haben wir zusammen mit den Amerikanern, Franzosen und arabischen Partnern zu 21 Tagen Waffenruhe aufgerufen. Um Raum für Diplomatie zu schaffen. Das Gegenteil ist passiert. Leider.
Frage:
Bombt Israel gerade eine Lösung in weite Ferne?
Annalena Baerbock:
Es ist nicht im Sicherheitsinteresse Israels, dass der Libanon das nächste Gaza wird. Darum arbeiten wir mit unseren Partnern genau daran, dass die Lage nicht zu einem umfassenden Krieg eskaliert. Denn klar ist: Israel kann auf Dauer nur in Sicherheit leben, wenn die Palästinenser und Israels Nachbarländer in Sicherheit leben können. Und umgekehrt.
Frage:
Ist die Befreiung der Geiseln wirklich noch das Ziel der israelischen Regierung?
Annalena Baerbock:
Offensichtlich nicht die allererste Priorität aller Regierungsmitglieder. Die Geiselfamilien sagen mir immer: Das wichtigste ist ein Waffenstillstand, damit die Geiseln überhaupt noch lebend gerettet werden können.
Frage:
Einer der Gründer von Human Rights Watch nennt das, was in Gaza passiert, Genozid. Laut UN-Konvention ist das der Versuch, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Trifft das nicht zu?
Annalena Baerbock:
Die Lage in Gaza ist himmelschreiend. Ohne Frage. Deswegen setze ich mich jeden Tag für die Einhaltung des Völkerrechts, einen Waffenstillstand und die Linderung des humanitären Leids ein. Zugleich ist die völkerrechtliche Bewertung komplexer als die härteste Verurteilung, die wir für menschliche Grausamkeit kennen. Etwa wenn in Gaza Krankenhäuser und Schulen als Terrorinfrastruktur missbraucht werden.
Frage:
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat behauptet, in Gaza herrsche kein Hunger. Als Sie ihm widersprachen, soll er Sie angeschrien haben.
Annalena Baerbock:
Diplomatie bedeutet auch, nicht um den heißen Brei herumzureden. Und die besondere Freundschaft zwischen Deutschland und Israel bedeutet für mich auch: Alles dafür tun, Israel davor zu bewahren, dass es sich verliert. Das heißt manchmal auch: sich anschreien zu lassen, wenn man unbequeme Wahrheiten ausspricht. Es bleibt dabei: Die israelische Regierung muss mehr als dringend sicherstellen, dass die humanitäre Versorgung der Menschen in Gaza gewährleistet ist. Auch um den Vorwürfen, sie würde diese Versorgung behindern, den Boden zu entziehen.
Frage:
Die Sicherheit Israels ist für Deutschland Staatsräson. Sollte sich Deutschland im Rahmen einer Friedensvereinbarung an einer Gaza-Schutztruppe beteiligen?
Annalena Baerbock:
Wir sollten uns immer wieder daran erinnern, was andere Länder für uns nach dem Zweiten Weltkrieg getan haben. Die Alliierten haben uns nicht nur massiv geholfen, unser Land wieder aufzubauen. Sie haben durch ihre Präsenz unseren Nachbarn die Sicherheit garantiert, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen wird. Und damit den Grundstein gelegt, dass wir heute seit Jahrzehnten in Frieden mit unseren Nachbarn leben. Das war das größte Glück für unser Land. Wenn Deutschland irgendwann seinen Beitrag leisten kann, dass der Nahe Osten das gleiche große Glück erlebt, dann sollten wir dies auch tun.
Frage:
Heißt das konkret, dass der Einsatz deutscher Soldaten zur Friedenssicherung im Nahen Osten denkbar ist?
Annalena Baerbock:
Für Frieden braucht es internationale Sicherheitsgarantien, dass von Gaza nie wieder Terror gegen Israel ausgeht. Und dass die Palästinenser sicher in einem eigenen Staat leben können. Ich habe daher auf einer Sicherheitskonferenz in Israel im Frühsommer bereits deutlich gemacht, dass Deutschland für so eine internationale Sicherheitsgarantie seinen Beitrag leisten sollte – als einer der engsten Freunde, denen Israel absolut vertrauen kann, ähnlich wie Amerikaner und Briten. Zugleich haben wir aus Afghanistan gelernt.
Frage:
Was genau?
Annalena Baerbock:
Dass man für Friedensmissionen immer auch starke regionale Partner braucht. Die wichtigsten arabischen Nachbarn müssten ebenfalls Verantwortung übernehmen. Daran arbeiten wir seit Monaten. Deswegen habe ich dazu einen ersten Vorstoß gemacht. Zu meiner großen Freude hat Jordanien hier in New York nach einer gemeinsamen Sitzung erklärt, dass arabische Länder bereit seien, Sicherheitsgarantien für Israel zu übernehmen – im Rahmen der Anerkennung des palästinensischen Staates. Darauf müssen wir aufbauen.
Frage:
Aber in Deutschland schwindet nicht nur die Unterstützung für Israel, auch die Hilfe für die Ukraine wird zum Teil heftig kritisiert. Das Bündnis Sahra Wagenknecht hat bei drei Landtagswahlen mit populistischen Friedensparolen abgeräumt. Wie sehr besorgt Sie das?
Annalena Baerbock:
Sehr. Denn es zeigt, wie die russische Propaganda verfängt. Wenn damit auch noch Parteien gewinnen, die autokratischem Denken näherstehen als unserem deutschen Grundgesetz, dann riskiert das die Sicherheit unseres Landes. Denn die platte Parole, der Krieg wäre ohne militärische Hilfe an die Ukraine zu Ende, ist so naiv wie falsch. Wenn die Ukraine aufhört, sich zu verteidigen, dann ist die Ukraine am Ende und Putins Soldaten stehen an der polnischen Grenze. Wenn Putin aufhört anzugreifen, dann ist der Krieg zu Ende.
Frage:
Sollte Russland an der nächsten Friedenskonferenz teilnehmen, wie es Olaf Scholz kürzlich überraschend angeregt hatte?
Annalena Baerbock:
Der Bundeskanzler hat den Vorschlag des ukrainischen Präsidenten Selenskyj vom Sommer aufgegriffen. Leider hat Putin die Einladung mit dem Angriff auf ein Kinderkrankenhaus beantwortet. Deswegen kann ich mich nur wiederholen: Es liegt nicht an uns oder gar der Ukraine, dass es keine Friedensverhandlungen gibt. Die ganze Welt würde doch aufatmen, wenn Putin endlich aufhörte zu bomben und bereit wäre, am Verhandlungstisch Platz zu nehmen. Die Einladung steht.
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Frage:
Laut einer neuen Allensbach-Umfrage findet mehr als jeder dritte Deutsche, die Grünen sollten auf keinen Fall an der nächsten Bundesregierung beteiligt sein. Noch unbeliebter ist nur die AfD. Was läuft da falsch?
Annalena Baerbock:
In diesen Krisenzeiten werden gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderung eher als Verunsicherung wahrgenommen – und eben nicht als Fortschritt. Mit Blick auf die Jahrhunderthochwasser versteht jeder, dass Klimaschutz ein Beitrag zu unser aller Sicherheit ist. Wir haben es aber offensichtlich nicht geschafft, deutlich zu machen, dass die Grünen auch auf anderen Feldern für Sicherheit stehen: für soziale aber auch für innere Sicherheit. Wenn uns das gelingt, geht es in den Umfragen wieder aufwärts.
Frage:
Was wollen Sie anders machen? Die Grünen stehen weiter für Veränderung.
Annalena Baerbock:
Ja, denn ohne Veränderung kein Fortschritt. In der Ampel haben wir dazu einiges angestoßen, den Reformstau der Großen Koalition beseitigt und das Land vorangebracht, vom Ausbau der Erneuerbaren Energien bis zur Fachkräfteeinwanderung. Die heftigen öffentlichen Diskussionen in der Ampel, aber auch bei uns in der Partei – gerade in der Migrationspolitik – haben das leider völlig überdeckt. Das muss sich ändern.
Frage:
Und wie?
Annalena Baerbock:
In dem wir vermeintliche Widersprüche auflösen. Das haben wir beim Klimaschutz durch pragmatische Politik gezeigt: Dass der Kohleausstieg nicht zu massiven Jobverlusten führt, sondern wir das Land gemeinsam klimafreundlich und sozialverträglich modernisieren können. Bei der Wärmewende ist uns das zu Beginn bekanntermaßen nicht wirklich gelungen. Dem Thema Flucht und Migration haben wir uns in den letzten Wahlkämpfen nicht offen genug gestellt, obwohl hier genau das Gleiche gilt: Innere Sicherheit und ein modernes Einwanderungsland sind kein Gegensatz, sondern zwei Seiten derselben Medaille. Humanität braucht Ordnung. Gerade um das Recht auf Asyl zu schützen, ist ein starkes Europäisches Asylsystem so zentral. Menschen, die keinen Anspruch auf Schutz haben müssen schnell, möglichst an der europäischen Außengrenze zurückgeführt werden. Zugleich müssen diejenigen, die Schutz brauchen oder als Fachkräfte kommen, viel schneller integriert werden.
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Interview: Miriam Hollstein und Jan Rosenkranz