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Rede von Außenministerin Baerbock anlässlich der Vorstellung des Buches „Das Auswärtige Amt und die Kolonien“

05.06.2024 - Rede

„Geschichte informiert unsere Gegenwart. Sie prägt unser Verständnis darüber, was wir denken und was wir sind, was wir über uns selbst und über andere Menschen denken.“ Das sind die Worte von Abdulrazak Gurnah. Die Worte des tansanischen Literatur-Nobelpreisträgers, der in seinen Werken die Geschichte Ostafrikas zu uns ins Jetzt holt. Gurnah tut das mit Feingefühl. Gerade dann, wenn er das Leid und die Wunden beschreibt, die die Deutschen damals als Kolonialmacht über die Menschen in seiner Heimat brachten und die noch immer klaffen.

Geschichte prägt unsere Gegenwart. Wie wir unsere Geschichte heute verstehen, bestimmt zugleich unser Handeln in der Zukunft. Genau darum geht es heute.

Mit dem Buch, das wir heute vorstellen, „Das Auswärtige Amt und die Kolonien“, werfen wir also nicht nur ein Licht in die Vergangenheit, sondern blicken vor allem nach vorne. Denn wir können unsere Vergangenheit nicht ändern. Aber wir können unsere Geschichte im Lichte unserer heutigen Kenntnisse reflektieren – und gemeinsam mit unseren Partnern Lehren für die Gegenwart und für unsere Zukunft ziehen.

Insofern ist kein Buch, kein historisches Urteil abschließend. Sich der Geschichte des Amts im Umgang mit dem Kolonialismus zu stellen, bleibt eine Daueraufgabe. Der heutige Termin ist deswegen auch keine punktuelle Veranstaltung, sondern ein Puzzlestück einer Strategie, die wir vor längerem begonnen haben und die auf lange Sicht angelegt ist – die nach innen und nach außen schaut, auf die Frage, wie wir als Amt uns mit unserer Kolonialgeschichte auseinandersetzen.

Im Sinne unseres Koalitionsvertrages, aus dem ich zitiere: „Die Kontinuitäten des Kolonialismus zu überwinden.“ Das ist eine Aufgabe für unsere gesamte Gesellschaft, für alle Teile der Bundesregierung. Wir leisten als AA dazu unseren Beitrag, in unterschiedlichen Formen. Heute geht es um Kontinuitäten im Denken und Handeln dieses Hauses, des Auswärtigen Amts.

Und ich sage das so ganz bewusst: Denken und Handeln. Denn ja, es betrifft die großen Linien unserer Außenpolitik – das Handeln. Aber es betrifft auch das Denken, das diesem Handeln zu Grunde liegt: das Bewusstsein, in dem wir hier gemeinsam Politik entwickeln – ich als Außenministerin, aber auch jede und jeder einzelne von uns im AA, als Diplomatinnen und Diplomaten, die wir Verantwortung tragen für die Stimme unseres Landes in der Welt.

Ich möchte hier ausdrücklich all jenen danken, die den Anstoß für diesen Buch-Prozess gegeben haben – das gilt insbesondere meinem Vorgänger Heiko Maas, der den Start in seiner Amtszeit ermöglicht hat.

Das gilt Martin Kröger, der als stellvertretender und baldiger Leiter unseres Politischen Archivs die unzähligen Dokumente zugänglich gemacht hat, die dem Buch zu Grunde liegen. Das gilt vor allem auch den Kolleginnen und Kollegen der „Diplomats auf Color“ – einer Initiative von vor allem jungen Beschäftigten aus diesem Haus. Menschen, die früher als andere verstanden haben, dass eine Auseinandersetzung mit unserer Kolonialgeschichte uns nicht nur nach außen stärkt, sondern auch nach innen – als ein Haus, ein Ministerium, in dem wir uns gemeinsam kritischen Debatten stellen.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, die Sie schon einmal durch das Buch geblättert, darin gelesen haben. Wir lesen dort Beschreibungen brutalster Gewalt neben Beschreibungen vermeintlich banalster bürokratischer Vorgänge. Und die Texte zeigen, wie das eine das andere bedingte.

Wir lesen vom Vorgehen der deutschen Kolonialherren im ehemaligen Deutsch-Ostafrika, wo Schätzungen davon ausgehen, dass allein im sogenannten Maji-Maji-Krieg etwa 300.000 Menschen getötet wurden.

Von den Vernichtungskriegen im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika, vom Völkermord dort an den Nama und Herero, für den unser Land historische Verantwortung trägt.

Wir lesen von den Grausamkeiten deutscher Offiziere und Beamte, wie vom deutschen Polizeimeister, der in Togo afrikanische Söldner rekrutierte und seinen Ausbildungsstil als preußisches Reglement rühmte, mit „Flüchen und 25 Hieben“.

Und: Wir lesen davon, wie aus Berlin, aus der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amts und später aus dem Reichskolonialamt, die Kolonien verwaltet wurden.

Wie Ignoranz und Fehleinschätzungen sich dort mischten mit Machtansprüchen und Herrschaftsdenken und wie dies die Brutalität in den deutschen Kolonien nicht nur begünstigte, sondern verstärkte.

Die deutsche Kolonialpolitik war geprägt von Unrecht und Gewalt. Es war eine Politik, die menschenverachtend und rassistisch war und für die das Auswärtige Amt damals klare Verantwortung trug.

Wie gehen wir um mit diesem Erbe? Für mich liegt die Antwort in der Verantwortung, die wir für unsere Gegenwart übernehmen.

Als letztes Jahr der kenianische Staatspräsident zu einer Energiekonferenz mit über 50 Ländern ins Auswärtige Amt kam, da begann er seine Rede damit, an eine andere Konferenz zu erinnern, die vor nun 140 Jahren in Berlin stattgefunden hat.

Die Kongo-Konferenz, bei der europäische Mächte ihre kolonialen Ansprüche festschrieben und die Aufteilung des afrikanischen Kontinents zur innereuropäischen Angelegenheit erklärten – auf Einladung des deutschen Reichskanzlers, organisiert vom Auswärtigen Amt.

Und: ohne einen einzigen Vertreter der betroffenen Gebiete am Tisch.

Präsident William Ruto sprach ohne Bitterkeit.

Aber es war ihm wichtig, aufzuzeigen, welchen Anteil Deutschland an der Kolonialgeschichte seines Kontinents hatte. Und wie weit der Weg ist, den viele afrikanische Länder seitdem gegangen sind.

Ich frage: Wie sollten wir heute Partnerschaften für die Zukunft schließen, wenn wir diesen Teil unserer Geschichte einfach negieren würden? Wenn wir sagen würden: Unsere Verantwortung für Euer Leid interessiert uns nicht.

So wächst kein Vertrauen. So wächst kein Verständnis, und so wächst keine ehrliche Partnerschaft für die Zukunft.

Teil einer wertegeleiteten Außenpolitik heißt für mich, dass wir uns fragen: Wie schauen Partner auf unsere bilateralen Beziehungen – im Lichte ihrer Geschichte. Dass wir bereit sind, die Welt aus ihrer Perspektive zu sehen. So wie wir für uns in Anspruch nehmen, dass unsere Geschichte unsere Außenpolitik prägt, gilt das auch für unsere Partner.

Deswegen ist eine ehrliche Aufarbeitung der Vergangenheit so wichtig. Unrecht zu benennen und anzuerkennen. Und sich offen und gemeinsam mit unseren Partnern auch Jahrzehnte später auszutauschen.

In diesem Sinne hat Bundespräsident Steinmeier im November 2023 in Tansania um Verzeihung gebeten für die Gewalttaten von deutschen Kolonialherren in der damaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika.

In diesem Verständnis sprechen wir mit Namibia darüber, wie wir unserer Verantwortung für die deutschen Gräueltaten gerecht werden können, die in dem Völkermord an den Herero und Nama gipfelten.

Wir hoffen, diesen Prozess bald abzuschließen – nicht im Sinne eines Schlussstriches, sondern um die Aufarbeitung voranzubringen und gemeinsam unsere Partnerschaft für die Zukunft zu bauen.

Unrecht anzuerkennen und zu handeln. Darum geht es auch bei der Rückgabe von Kulturgütern, die wir in dieser Bundesregierung zur Priorität gemacht haben. Die Rückgabe der Benin-Bronzen nach Nigeria war ein erster großer Meilenstein.

Ich habe dort, in Nigeria, aber auch bei der Rückgabe von Objekten in Australien an die Kaurna im letzten Monat erlebt, wie wichtig diese Güter für die Menschen dort sind. Weil jedes einzelne Objekt in sich eine Geschichte trägt, die Geschichte des Herkunftslandes, der Herkunftsgesellschaft.

Unsere nächste große Aufgabe ist der Restitutionsprozess mit Kamerun; hier führen wir derzeit viele vertrauensvolle Gespräche.

Und wir wissen: Diese Rückgaben sind komplexe Prozesse. Es gibt keine pauschalen Lösungen. Weil es kein pauschales Unrecht und Leid gibt und daher auch keine pauschale Aufarbeitung, in der man sagt: „was wir mit dem einen Land gemacht haben, machen wir jetzt auch mit einem anderen Land.“

Die australische Außenministerin Penny Wong hat sehr treffend gesagt, dass es schmerzhaft sein kann, über Geschichte zu sprechen, dass es aber nötig ist, um eine gemeinsame Zukunft aufzubauen.

Genau in diesem Verständnis arbeiten wir mit unterschiedlichen Ländern zusammen. Ich glaube, das gelingt uns am besten, wenn wir bereit sind, auch unser eigenes Denken bis heute zu hinterfragen.

Es ist gut, dass das Buch sich auch mit dieser Frage beschäftigt, - vielleicht der entscheidenden, nämlich wie „koloniales Denken“ lange nach Ende der Kolonialzeit in den Köpfen weitergelebt hat, auch im AA.

Mir ist das wieder bewusst geworden, als wir im April dem Völkermord in Ruanda gedacht haben, - dort vor Ort zu sein, mit Angehörigen der Opfer zu sprechen. Über den Völkermord in Ruanda, bei dem vor 30 Jahren fast eine Million Menschen getötet wurden – vor den Augen der Weltöffentlichkeit.

Als ich mir die Berichte und Reden anschaute, die damals in der deutschen Öffentlichkeit – aber teils auch hier im AA - verfasst wurden, da bin ich regelrecht erschrocken. Wir sprechen hier über die 1990er Jahre.

Da liest man, wie das Massaker an den Tutsi damals als „Stammesfehde“ bezeichnet wurde, oder als Kämpfe „im Busch“. Als gehöre die Gewalt zur Natur dieser Länder dazu. Und als wären es nicht die Kolonialmächte gewesen, darunter Deutschland, die im 20. Jahrhundert dazu beigetragen hatten, das Land immer stärker in die vermeintlich ethnischen Kategorien von Tutsi und Hutu zu spalten.

Indifferenz, Relativierung. Sichtweisen, die verhindert haben, dass wir genauer hinsahen, die verhindert haben, dass wir verstanden haben, was in Ruanda passierte und aktiv geworden wären.

Deswegen ist es entscheidend, dass wir unsere Partnerschaften heute auf Wissen und Verständnis bauen. Nur so können wir gemeinsam vorankommen, ob es um die Klimakrise geht, Pandemien, Energieversorgung oder die Lösung von Konflikten. – indem wir genau hinhören, darauf, was die Sorgen, aber auch die Stärken des anderen sind.

Auch hier geht es darum, dass wir uns nicht anmaßen, zu „wissen“, was „im besten Interesse“ unserer Partner ist – so wie das lange mit großer Überheblichkeit vielerorts in Europa behauptet wurde, auch bei Energiefragen zum Beispiel, wenn man über den sogenannten „globalen Süden“ sprach.

Jeder aber weiß selbst am besten, was in seinem Interesse ist. Wenn wir unsere globalen Partnerschaften heute bauen, dann ist es genau in diesem Verständnis: dass jeder zu Recht in seinem eigenen Interesse handelt, und zugleich in Verantwortung für andere, für unsere gemeinsame regelbasierte Ordnung, und wir dann Lösungen finden, die unser aller Interessen dienen. Denn eine echte Partnerschaft ist eine, die beide Seiten stärkt.

Von Partnern, die Verantwortung übernehmen, für die Probleme unserer Zeit. Zu Recht fordern afrikanische Staaten in diesem Sinne eine größere Rolle in internationalen Foren. Wir unterstützen das mit aller Kraft – ob in den G20, wo die Afrikanische Union jetzt endlich mit am Tisch sitzt, bei der Reform des VN-Sicherheitsrats oder in anderen internationalen Organisationen.

Weil unsere gemeinsamen Regeln am besten tragen, wenn sie auf Strukturen gebaut sind, die unsere Welt von heute abbilden. Wir sehen, wie autokratische Akteure versuchen, diese Regeln zu brechen – mit militärischer Gewalt oder maximalem wirtschaftlichen Druck.

Und wie sie dabei auch versuchen, die Wunden zu instrumentalisieren, die Europa in der Welt hinterlassen hat – in dem sie immer wieder Bezug nehmen auf die europäische Kolonialgeschichte und sich als antikoloniale Vorkämpfer präsentieren.

Natürlich ist es grotesk, wenn gerade ein Land wie Russland das tut, das gerade einen imperialen Krieg führt.

Aber diese Kommunikation verfängt. Leider. Wir können uns die Welt nicht schönreden. Sie verfängt, weil sie auf einer tatsächlich vorhandenen Wahrnehmung in vielen Ländern beruht, die lautet: „Die Europäer haben ihre Rolle als Kolonisatoren nie aufgearbeitet.“

Das kann man richtig finden oder falsch. Aber es ist das, was ich vielerorts immer wieder höre. Es gibt da einen Satz, den ich in Südafrika gehört habe, der mich nicht loslässt. Als ich dort über Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine diskutiert habe, hieß es: „Ja, aber Russland war da, als wir gegen die Apartheid gekämpft haben. Ihr wart es nicht.“

Und da gibt es nichts schön zu reden. Es ist die bittere Realität: die Regierungen Westdeutschlands haben den Kampf gegen die Apartheid viel zu lange nicht unterstützt. Das können wir heute nicht ändern. Wir könnten jetzt sagen: „Da hab‘ ich noch gar nicht gelebt.“ Wir könnten auch sagen: „es gab auch Ostdeutschland“. Aber wir können uns auch einfach unserer Verantwortung stellen. Und das tun wir. Indem wir hinhören, und uns selbstkritisch damit auseinandersetzen, und daran arbeiten, jetzt stärkere Partnerschaften für die Zukunft bauen.

Indem wir reflektieren und nicht relativieren. Natürlich kann man darauf hinweisen, dass die damalige Sowjetunion, zu der auch andere Länder als Russland gehörten, nicht das heutige Russland Putins ist. Aber ich glaube, wir kommen am weitesten, wenn wir immer wieder deutlich machen, - und da ist für mich Selbstreflektion keine Schwäche, sondern eine Stärke: Ja, wir können die Fehler Vergangenheit nicht heilen, aber wir können daraus Lehren und Verantwortung für heute und die Zukunft ziehen. Ich bin überzeugt: Je ehrlicher und offener wir uns mit diesen Ressentiments und unserer eigenen Vergangenheit beschäftigen, desto weniger Raum lassen wir autokratischen Kräften und ihrem zynischen Kalkül. Und desto mehr Raum öffnet sich für Partnerschaften, die auf Vertrauen und Verständnis gebaut sind.

Und vielleicht animieren wir so auch andere, durch diese Selbstreflektion, selbst zu reflektieren ob etwa wirklich die Sowjetunion von damals mit dem heutigen Russland zu vergleichen ist.

Deswegen will ich es ganz klar sagen: Ein offener Umgang mit unserer Geschichte, eine selbstkritische „Vergangenheitspolitik“ ist Teil unserer Sicherheitspolitik. Sie ist das Gegenteil einer chauvinistischen Politik, die auf Überheblichkeit und vermeintlicher Unfehlbarkeit basiert. Weil es uns stärker macht, wenn wir bereit sind, kritisch auf uns selbst zu schauen. Wenn wir bereit sind, hinzuhören - auf die Verletzungen der Vergangenheit, aber genauso auf die Bedürfnisse unserer Partner in der Gegenwart. Weil genau das der Weg ist, vertrauensvolle Partnerschaften in der Welt zu bauen. Und so unsere gemeinsame Sicherheit, unseren Frieden und unseren Wohlstand zu stärken, im hier und jetzt, in unserer Gegenwart. Und vor allem gemeinsam, in unserer Zukunft.

Meine Damen und Herren,

Geschichte prägt unser Verständnis darüber, was wir denken und was wir sind, so hat der Autor Gurnah es formuliert. Das gilt auch für unsere Rolle als Diplomatinnen und Diplomaten. Deswegen haben wir, auch als Teil unserer Strategie zur Feministischen Außenpolitik, immer wieder den Blick nach innen, in unser eigenes Haus, in unsere eigenen Strukturen gerichtet. In diesem Sinne werden wir ab diesem Sommer alle jungen Diplomatinnen und Diplomaten die deutsche Kolonialgeschichte noch breiter und systematischer als bisher in ihrer Ausbildung behandeln lassen.

Wir werden auch noch stärker darauf achten, unsere Diplomaten vor Auslandsposten für unsere Kolonialgeschichte zu sensibilisieren – mit gezielten Fortbildungen und Gesprächen.

Denn ich bin überzeugt: Ein Haus, das sich seiner eigenen Geschichte bewusst ist, das ist ein Haus, ein Amt, das dadurch stärker wird. Nach außen, als ein Akteur, der von globalen Partnerschaften profitiert, die auf Vertrauen gebaut sind. Nach innen, als ein Arbeitgeber, der modern und attraktiv ist, weil er kritische Debatten annimmt.

Als starker Partner in der Welt. Und als selbstbewusste Stimme für unser Land.

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