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Rede von Außenministerin Baerbock anlässlich der Vergabe des Walther-Rathenau-Preises an die estnische Premierministerin Kaja Kallas
Ich möchte Sie zurück ins Jahr 1988 mitnehmen. Vor 36 Jahren besuchte ein 11-jähriges Mädchen namens Kaja Kallas zusammen mit ihrer Familie zum ersten Mal Berlin.
Estland befand sich unter sowjetischer Besatzung. Ostdeutschland war fest verankert im Warschauer Pakt. Kaja, du hast oft die Geschichte erzählt, wie ihr, du und deine Familie, so nahe ans Brandenburger Tor herangegangen seid, wie dies die DDR-Grenzposten erlaubten.
Und wie dein Vater zu dir sagte: „Atme tief ein. Das ist die Luft der Freiheit, die von der anderen Seite kommt.“
Heute wird dir als estnische Ministerpräsidentin der Walther-Rathenau-Preis verliehen, nur wenige hundert Meter von dem Ort entfernt, wo du einst mit deiner Familie standst.
Du erhältst diesen Preis, weil du diese Luft der Freiheit nie als selbstverständlich angesehen hast.
Stattdessen hast du uns alle in Europa im Laufe deiner politischen Karriere wieder und wieder daran erinnert, was es braucht, um diese Freiheit zu schützen.
Es braucht Mut und Entschlossenheit.
Gibt es noch viel, was du wiedererkennst, wenn du heute durch die Straßen von Berlin gehst? Wahrscheinlich nicht.
Denn kurz nach deiner Reise 1988 fiel die Mauer. Deutschland wurde wiedervereinigt. Die Luft der Freiheit, von der dein Vater gesprochen hatte, wehte durch ganz Berlin.
Berlin wurde wieder eine einzige Stadt.
Die Wiedervereinigung unseres Landes wäre – und daran müssen wir uns jeden Tag erinnern – ohne die Unterstützung und auch die Inspiration, die wir von unseren Freunden und Nachbarn in Osteuropa und im Baltikum erhielten, nicht möglich gewesen. Vor drei Jahrzehnten standen die Menschen im Baltikum friedlich und mutig gegen ein totalitäres Regime auf -- und waren erfolgreich.
Was später als der Baltische Weg von 1989 bekannt wurde, brachte zwei Millionen Menschen zusammen, die eine 600 km lange Menschenkette bildeten. Mit Mut und Solidarität erhoben sich die Menschen in Litauen, Lettland und Estland gegen den imperialistischen Unterdrücker, um ihre Freiheit und ihr Recht auf Selbstbestimmung einzufordern.
Dies war auch eine Inspiration für die mutigen Frauen und Männer in Ostdeutschland, die in ihrer eigenen friedlichen Revolution auf die Straße gingen, um ihre Freiheit zu fordern.
In den folgenden Jahren wuchs Europa enger zusammen. 2004 begrüßten wir zehn neue Mitglieder in der Europäischen Union und sieben in der NATO, einschließlich deines Landes, Estland.
Wenn Touristinnen und Touristen heute hierherkommen, müssen sie manchmal Berlinerinnen oder Berliner fragen, ob der Stadtteil, in dem sie gerade sind, zum Ost- oder Westteil der Stadt gehörte. Man muss nur an deinen ersten Besuch im Jahr 1988 denken, um zu erkennen, wie glücklich wir uns in Deutschland schätzen können.
Doch vielleicht haben wir Deutsche nach der Wiedervereinigung etwas achtlos begonnen, diese Luft der Freiheit um uns herum als selbstverständlich anzusehen.
Wir begannen, Bedrohungen für unsere europäische Sicherheit weitgehend als theoretisch zu betrachten.
In Estland jedoch konntet ihr es euch nicht leisten, irgendetwas als selbstverständlich anzusehen.
Die Estinnen und Esten wissen sehr gut, was Besatzung bedeutet. Was es bedeutet, als integraler Bestandteil der Sowjetunion behandelt zu werden. Für dich, Frau Ministerpräsidentin, liebe Kaja, ist es Teil deiner Familiengeschichte.
Deine Großmutter wurde 1949 nach Sibirien deportiert, zusammen mit deiner Mutter, die damals erst sechs Monate alt war. Die beiden teilten das Schicksal von 75.000 Estinnen und Esten – von denen viele nie mehr in ihr Heimatland zurückkehrten.
Wir dürfen unsere Freiheit nicht als selbstverständlich ansehen. Weder, wenn wir in die Vergangenheit zurückschauen, noch, wenn wir auf das Hier und Jetzt blicken.
Das haben die Estinnen und Esten, das hast du, liebe Kaja, viel früher verstanden als viele von uns hier im restlichen Europa, auch hier in Deutschland. Freiheit ist so wichtig wie die Luft, die wir atmen.
Und das ist eine Überzeugung, die du immer vertreten hast – seit deinem ersten Mandat als Mitglied des estnischen Parlaments vor 13 Jahren. In deiner Zeit im Europäischen Parlament und auf deinem gesamten Weg, bis du Vorsitzende deiner Partei und schließlich 2021 Ministerpräsidentin wurdest.
Heute sind die Versuche Russlands, die europäischen Demokratien zu untergraben, uns allen gut bekannt.
Wir sehen dies an Hackerangriffen auf den Deutschen Bundestag. An der Überflutung unserer Gesellschaften mit Fake News. An den Botnetzen, die versuchen, unsere Online-Diskussionen zu verzerren.
Am Abhören von vertraulichen Telefonaten, die von Russland in der Hoffnung geleakt werden, den europäischen Zusammenhalt zu untergraben.
Putins „Schattenkrieg“, wie du ihn genannt hast, findet inmitten unserer Demokratien statt.
Aber für Estland ist das nichts Neues.
Schon 2007 erlebte Estland einen der damals größten Cyberangriffe der Geschichte. Er richtete sich gegen die Hälfte aller estnischen Medienunternehmen, zwei der größten Banken des Landes – und fast alle Ministerien der estnischen Regierung. Auch die Website deiner eigenen Partei, liebe Kaja, war betroffen.
Und diese Angriffe erfolgten zufällig genau zu der Zeit, als die Bewohnerinnen und Bewohner von Tallin planten, eine Statue zum Gedenken an die Befreiung der Stadt durch die Sowjets, wie es damals hieß, an einen weniger prominenten Ort zu verlegen.
Heute nimmt Estland eine internationale Führungsrolle bei der Digitalisierung und Cyberabwehr ein. Und auch du spieltest dabei eine wichtige Rolle.
Aber das nicht nur aufgrund estnischen Erfindergeistes. Sondern weil es notwendig ist, wie du oft gesagt hast.
Da Estland und seine Ministerpräsidentin nie unsere Freiheit in Europa als selbstverständlich angesehen haben. Du hast uns davor gewarnt, unsere Sicherheit in Europa als selbstverständlich anzusehen.
Aber in Deutschland haben wir erst sehr spät realisiert, dass Russlands Revisionismus sich nicht durch verbesserte Geschäftsbeziehungen eindämmen lassen würde.
Und dass eine Gaspipeline, die Europas Energieabhängigkeit von Russland zementiert, mitnichten eine apolitische Angelegenheit ist.
Natürlich können wir die Fehler der Vergangenheit nicht ungeschehen machen. Aber wir können dafür sorgen, dass wir sie in Zukunft nicht wiederholen.
Mein Land hat daher den umfangreichsten Wandel in unserer Sicherheits- und Verteidigungspolitik seit der Wiedervereinigung angestoßen: unsere Zeitenwende.
Wir stärken den europäischen Pfeiler der NATO. Wir stationieren dauerhaft eine Brigade in Litauen und schützen gemeinsam den baltischen Luftraum. Da wir unser Leben in Freiheit, in einem wiedervereinten Land im Herzen Europas auch unseren Bündnispartnern und Nachbarn verdanken. Wir werden für sie da sein. Jetzt. So wie ihr für uns da wart.
Ich möchte wiederholen, was ich in Warschau gesagt habe: Die Sicherheit Osteuropas, die Sicherheit des Baltikums ist auch Deutschlands Sicherheit.
Du, liebe Kaja, konntest sehen, wie sich Russland in das verwandelte, was die deutsche Politologin Sabine Fischer eine „chauvinistische Bedrohung“ nannte.
Dass Imperialismus, Nationalismus und Sexismus miteinander zusammenhängen.
Und es war kein Zufall, dass der Kreml einige Jahre vor der massiven Unterdrückung seiner Opposition häusliche Gewalt de facto legalisierte, sodass gewalttätige Männer nur dann strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie eine Frau krankenhausreif schlagen.
Man konnte zusehen, wie sich das russische Regime zunehmend in ein Regime verwandelte, das immer repressivere Mittel einsetzte, um Dissens im Innern zu unterdrücken. Und ein Regime, das zunehmend sein aggressives Verhalten nach Außen richtete. Und – auch dies kein Zufall – einem souveränen Land wie der Ukraine erklärte: „Ob es dir gefällt oder nicht, meine Schöne, du musst es über dich ergehen lassen.“
Du warntest uns vor ihnen, als Frau. Denn viele andere – männliche – Staats- und Regierungschefs verstanden es nicht.
Aufgrund Estlands geografischer Nähe zu Russland konntest du aus nächster Nähe sehen, wie Russland sich veränderte.
Und wieder ist es keine Überraschung, dass dieses Land dich, Kaja Kallas, die Ministerpräsidentin von Estland, letzten Monat auf eine so genannte „Fahndungsliste“ setzte.
Denn was Autokraten auf der ganzen Welt am meisten fürchten, was sie mehr „triggert“ als alles andere, sind mutige Führungspersönlichkeiten, die Dinge offen ansprechen. Mutige weibliche Führungspersonen, die Dinge offen ansprechen.
Weibliche Führungspersonen wie du, liebe Kaja.
Eine Führungsperson, eine weibliche, die nicht verbirgt, dass sie eine Frau ist.
Weil sie weiß, dass es eine nicht zu unterschätzende Macht ist, eine Frau zu sein.
Dass es keine Schwäche ist, Empathie und Mitgefühl zu zeigen, sondern eine Stärke.
Eine Führungsperson, eine weibliche, die sich keinen Illusionen darüber hat, was für ein Akteur Russland auf der internationalen Bühne geworden ist.
Eine weibliche Führungsperson, die den Zusammenhang zwischen der Unterdrückung der Frau, der Legalisierung häuslicher Gewalt und einer aggressiven Invasion versteht.
Eine weibliche Führungsperson, die ihre europäischen Verbündeten ruhig daran erinnert, dass jedes Zeichen der Schwäche nur Russlands Aggression antreibt.
Es ist kein Zufall, dass der Kreml dich zu einer besonderen Zielscheibe seiner Propaganda, seiner Fake News und seiner Lügen gemacht hat.
Und auch hier möchte ich etwas unterstreichen. Wenn man sich die Fake News und Lügen, mit denen die Ministerpräsidentin konfrontiert ist, genauer ansieht, wird klar: Auch hier gibt es keinen Zufall.
Der Kreml nimmt sie als Person, als Frau ins Visier. Und als Mutter.
Und ich sage dies, weil wir diese weiblichen Führungspersonen brauchen. Als Frauen, aber auch als Mütter.
Weil es, wenn man sich in der Politik umsieht, kaum jemanden gibt, der Kinder hat, die noch nicht erwachsen sind. Und wenn, dann sind es immer weibliche Führungspersonen.
Und daher sind diese Fake News vollkommen anders als die Fake News über andere. Weil sie versuchen, auch die Familie ins Visier zu nehmen.
Wir sehen es auch bei anderen autokratischen Regimen wie im Iran, einem Regime, das Frauen bekämpft, die Uhr zurückdrehen und sowohl das Land als auch die Frauen in eine längst vergangene Zeit zurückführen möchte.
Für sie ist schon die Existenz von weiblichen europäischen Führungspersonen wie dir, liebe Kaja, eine Provokation. Und dann noch eine Führungsperson, die so effizient und mutig ist, wie du es bist.
Ich erinnere mich noch gut an unser erstes Treffen im Stenbock-Haus in Tallinn, nur wenige Wochen nach Russlands groß angelegter Invasion der Ukraine. Du sprühtest vor Energie, positiver Energie, trotz der fürchterlichen Umstände. Wir sprachen über Treuhandkonten für russische Gaseinnahmen. Wie die Energieabhängigkeit Europas von Russland verringert werden könnte. Über die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine.
Und du sagtest mir ganz unmissverständlich, dass Deutschland eine Führungsrolle werde übernehmen müssen, wenn wir die russische Aggression stoppen wollten.
Du argumentiertest – und das werde ich nie vergessen –, dass die russische Gesellschaft nur durch Angst zusammengehalten würde. In unseren Demokratien hingegen, sagtest du, ist es unsere Freiheit, die uns zusammenhält.
Und grundsätzlich, so denke ich, lautet deine Botschaft: Die Macht der Freiheit ist stärker als die Macht der Angst.
Und wenn man sicher sein will, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen, sollten wir keine Angst vor unserer eigenen Macht haben. Das war dein Appell auf der Münchner Sicherheitskonferenz.
Ruhig, aber unglaublich präzise.
Denn es ist wahr: Nach zwei Jahren dieses Angriffskriegs ist nicht zu erkennen, dass Russland hinsichtlich seiner imperialen Kriegsziele nachlässt. Russland verursacht nach wie vor unsägliches Leid in der Ukraine. Es opfert weiterhin Menschenleben aus seiner eigenen Bevölkerung.
Aber das Schlimmste, was wir tun könnten, wäre es, uns der Angst oder Resignation hinzugeben.
Denn es geht nicht nur um die Verteidigung der Ukraine. Es geht um die Verteidigung unseres eigenen Friedens und unserer eigenen Freiheit.
Denn – und das sagtest du vor zwei Jahren – wenn unsere Unterstützung der Ukraine nachlässt, rückt der Krieg näher an uns heran.
Genau das hast du uns über die vergangenen zwei Jahre wieder und wieder gesagt.
Weil wir hier in der Mitte, im Herzen Europas leben. Aber du, dein Land teilt eine 300 Kilometer lange Grenze mit Russland. Ihr wisst ganz genau, dass es nicht an euch ist, zu entscheiden, ob euer Land eine Kriegspartei wird. Sondern es ist allein Putins Entscheidung.
Es geht hier um nichts weniger als um die Verteidigung unseres Friedens und unserer Freiheit in Europa. Nicht nur für heute. Sondern – wie es auch dein Vater wusste, als er mit dir vor etwa 36 Jahren am Brandenburger Tor über deine Freiheit sprach – es geht um die Freiheit unserer Kinder, um unsere gemeinsame Zukunft auf unserem gemeinsamen Kontinent. Daher dürfen wir unsere Unterstützung für die Ukraine nicht mit Blick auf die nächsten Monate oder, schlimmer noch, mit Blick auf unsere eigenen innerstaatlichen Wahlzyklen betrachten.
Wir müssen Russlands Angriffskrieg mit Blick auf das Europa betrachten, in dem wir möchten, dass unsere Kinder groß werden. Deine Kinder, meine Töchter, die noch ihr ganzes Leben vor sich haben.
Daher stehen wir an der Seite unserer ukrainischen Nachbarn, so lange, wie dies nötig ist. Wie du es in den letzten zwei Jahren gesagt hast: weil es bedeutet, sich für unsere eigene gemeinsame Sicherheit einzusetzen. Für die Freiheit unserer Kinder.
Und du, Kaja, gehst mit gutem Beispiel voran und zeigst, was dies bedeutet. Es bedeutet auch starke und harte Entscheidungen in deinem eigenen Land. Weil die Haushaltsherausforderungen, vor denen wir stehen, uns alle in Europa betreffen.
Mit gutem Beispiel vorangehen bedeutet für Ministerpräsidentin Kaja Kallas, dass Estland 3,6 % seines BIP für die Unterstützung der Ukraine ausgibt.
Mehr als jedes andere Land in Europa, wenn man das BIP betrachtet.
Und das hat seinen Preis, denn natürlich gibt es auch in deinem Land eine Innenpolitik. Und ich würdige das außerordentlich! Weil du nicht darüber gesprochen hast. Du hast es in ganz Europa nicht an die große Glocke gehängt. Du hast es einfach gemacht, ruhig, aber entschieden.
Du hast es wegen dem getan, was du vor 36 Jahren gelernt hast, was dein Land vor Jahrzehnten gelernt hat.
Deine Warnungen hinsichtlich Russlands Verhalten waren so zutreffend, dass eine deutsche Zeitung dich letztes Jahr als „Europas Kassandra“ bezeichnet hat.
Wenn man ein bisschen darüber nachdenkt, ist man nicht sicher, ob das wirklich ein Kompliment ist. Frauen mit solchen Worten zu beschreiben. Ich würde sagen, dies erfolgt aufgrund deiner Stärke. Aber ich frage mich auch, ob man bei einem Mann dieselbe Bezeichnung wählen würde.
Aus meiner Sicht ist dies ein großes Kompliment, da du uns durch deinen starken Einsatz allen eingeschärft hast, dass die Macht der Freiheit stärker ist als die Macht der Angst.
Und es stimmt, wie bei Kassandra, sind viele deiner Vorhersagen wahr geworden. Doch es gibt mindestens einen klaren Unterschied zwischen dieser Figur der antiken griechischen Mythologie und dir: Während Kassandra mit dem Fluch belegt wurde, dass niemand ihre Weissagungen glaubte, wurden deine Warnungen schließlich von deinen europäischen Partnern gehört.
Und du hast dafür gesorgt, dass deine Analyse nicht nur gehört wurde, sondern zu konkreten Maßnahmen führte. Du hast uns im Handeln als europäische Partner zusammengebracht, um unsere Antwort auf Russlands Aggression vorangebracht.
Heute erhältst du den Walther-Rathenau-Preis genau dafür, für deine klaren Analysen, aber auch für deine Hartnäckigkeit und deinen Mut zu handeln, auch wenn dir der Wind direkt ins Gesicht blies.
Du hast uns gezeigt, dass wir niemals unsere Luft der Freiheit als selbstverständlich ansehen dürfen. Dass es in unseren Händen liegt, diese Luft der Freiheit zu verteidigen, wenn wir zusammenstehen und wenn wir mit Entschlossenheit handeln.
Weil, wie du gesagt hast, die Macht der Freiheit stärker ist als die Macht der Angst.
Danke, liebe Ministerpräsidentin, danke, liebe Kaja. Und Gratulation!